»Hohe Entschlossenheit«
Rojava-Sprecher über den türkischen Einmarsch in Afrin
Wie ist die Lage der Zivilbevölkerung in Afrin?
Vor allem die Grenzgebiete von Afrin sind derzeit von schweren Gefechten betroffen. Die Zivilbevölkerung musste hier großteils ihre Häuser verlassen. Täglich gibt es zudem Bombenangriffe, auch direkt in der Stadt selber. Menschen, die sich nicht verteidigen können, wurden in Höhlen in Sicherheit gebracht. Nach den letzten Informationen unseres Gesundheitsrates wurden bisher 35 Zivilisten getötet und 106 verletzt, darunter viele schwer. Alles in allem geht es den Menschen jedoch trotz der Kriegssituation nicht schlecht, es herrscht eine hohe Entschlossenheit, Widerstand zu leisten.
Die Türkei erklärte, Afrin befreien zu wollen. Wie bewertet die Bevölkerung den Angriff?
Afrins Bevölkerung bewertet den türkischen Einmarsch als Besatzungsversuch und klaren Terror einer ausländischen Kraft. Sie steht dem System von Rojava mehrheitlich positiv gegenüber und ist mehrheitlich auch ein Teil der Revolution, die hier stattgefunden hat und auch immer noch stattfindet.
Laut der türkischen Regierung soll sich der Angriff auch gegen den Islamischen Staat richten. Gibt es diesen in Afrin?
Das ist kompletter Nonsens, natürlich gibt es keine IS-Gruppen in Afrin. Der Kanton hat sich die vergangenen Jahre erfolgreich gegen alle Angriffe von außen gewehrt, speziell gegen Kräfte der Freien Syrischen Armee. Afrin ist einer der wenigen Orte in Syrien, die bisher weitgehend vom Krieg verschont geblieben sind, es konnte so eine den Umständen entsprechend relativ gute Wirtschaftsstruktur und Verwaltung aufgebaut werden. Die Berichte basieren auf türkischer Propaganda, die damit ihren Besatzungskrieg legitimieren will.
In türkischen Grenzstädten sind Raketen eingeschlagen, Ankara macht die kurdische Miliz YPG dafür verantwortlich. Wurde von Afrin aus auf diese Orte geschossen? Nein. In der Türkei selbst gibt es Personen, die dieser Behauptung widersprechen, beispielsweise ein
Serzad Hisên ist Koordinator im »Informationszentrum des Afrin-Widerstands«. Das Zentrum ist ein Projekt verschiedener Institutionen und Bewegungen aus Rojava. Es steht nach eigenen Angaben eng mit zivilen und militärischen Quellen in Afrin in Kontakt. Das Gespräch führte Sebastian Bähr.
CHP-Abgeordneter aus Hatay. Dieser hatte erklärt, dass die abgefeuerten Raketen gar nicht die Reichweite haben, um von Afrin aus abgefeuert worden zu sein. Die YPG und die Syrisch-Demokratischen Kräfte (SDF) – an denen sich die YPG beteiligt – hatten klargestellt, dass sie damit nichts zu tun haben.
Wie verlaufen die Kämpfe?
Nach unseren letzten Informationen sind auf Seiten der türkischen Armee als auch der mit ihr verbündeten Einheiten der Freien Syrischen Armee (FSA) 203 Kämpfer getötet worden. Die YPG hat mindestens 22 Gefallene zu beklagen. So wie es zur Zeit aber aussieht, ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass Afrin von der Türkei wirklich besetzt wird. Eine der größten Armeen dieser Welt, mit modernster, internationaler Kriegstechnologie ausgestattet, schaffte es innerhalb von fünf Tagen lediglich, eine Handvoll Dörfer einzunehmen. Sie ist in einigen weiteren Ortschaften im Grenzgebiet damit beschäftigt, ihre Position zu halten. Vermutlich hatten sie diesen Widerstand nicht erwartet.
Es gibt Berichte, wonach die türkische Armee deutsche Rüstungsgüter einsetzen soll. Können Sie dies bestätigen?
Die türkische Armee benutzt deutsche Panzer in ihrer Operation – nicht nur vereinzelt, sondern massenhaft. Sowohl türkische Medien als auch lokale Quellen in Afrin haben dies durch Bilder bestätigt.
Schon länger gab es Ankündigungen der Türkei, Afrin anzugreifen. Warum jetzt und warum Afrin? Die türkische AKP-Regierung befindet sich in einer politischen, gesellschaftlichen und diplomatischen Krise. Mit der Operation will sie aus dieser herauskommen und gleichzeitig der Revolution in Rojava einen tödlichen Schlag versetzen. In der Geschichte der kurdischen Freiheitsbewegung, auch vor der Revolution, spielte Afrin zudem eine bedeutende Rolle. Tausende Männer und Frauen aus dieser Region hatten sich in der Vergangenheit der Guerilla in den Bergen angeschlossen, um gegen die Türkei zu kämpfen. Afrin ist so ein Symbol und gleichzeitig ein Gebiet in Rojava, in der die Internationale Koalition gegen den IS nicht vertreten ist.
Welche Auswirkungen hat die türkische Offensive auf die Beziehungen zwischen SDF und den USA? Mit ihrem Einmarsch hat die Türkei den IS in Syrien ein weiteres Mal gestärkt: In den vergangenen Tagen gab es Angriffe der Islamisten, unter anderem in der Region Deir ez-Zor. Die SDF und die Nordsyrische Föderation erwarten, dass die USA und die Internationale Koalition gegen den IS eine klarere Position zu diesem Krieg beziehen.
Welche Rolle spielte Russland bei dem türkischen Einmarsch?
Es gab zuvor Gespräche zwischen Vertretern der YPG, der Nordsyrischen Föderation und Russland. Wir wurden dabei zu Friedensverhandlungen eingeladen, die in Sotschi geführt werden. Russland hatte jedoch dann Bedingungen gestellt, die von den nordsyrischen Verantwortlichen nicht akzeptiert werden konnten. Der folgende gleichzeitige Rückzug der russischen Militärkräfte aus Afrin und die Operation der syrischen Armee auf Idlib lassen darauf schließen, dass es ein Abkommen zwischen der Türkei und Russland gab, diese Regionen miteinander auszutauschen. Moskau spielte damit ein hinterhältiges Spiel: auf der einen Seite Zugeständnisse machen, auf der anderen Seite einen geheimen Deal mit der Türkei planen.
Gibt es Staaten, die sich mit Afrin solidarisch erklärt haben?
Es gibt bis jetzt keinen Staat, der Afrin eine Unterstützung angeboten hat. Eine Reihe von Staaten haben jedoch ihre Zweifel und ihren Unmut über die türkische Operation geäußert.