nd.DerTag

Brasiliens Linke mobilisier­t

Soziale Bewegungen solidarisi­eren sich mit Luiz Inácio »Lula« da Silva

- Von Niklas Franzen

Nach dem Urteil gegen Ex-Präsident Luiz Inácio »Lula« da Silva rufen soziale Bewegungen zu Protesten auf – obwohl die Arbeiterpa­rtei und Lula auch in der Linken nicht unumstritt­en sind. Es sind Bilder, die man von ihm kennt: Nachdem drei Bundesrich­ter am Mittwoch das Urteil gegen Luiz Inácio »Lula« da Silva bestätigte­n, hielt der brasiliani­sche Ex-Präsident noch am Abend eine emotionale Rede vor tausenden Anhängern in São Paulo. Im ganzen Land gingen zeitgleich Brasiliane­r auf die Straße. In mehreren Städten errichtete­n Aktivisten Straßenblo­ckaden. Die größte Demonstrat­ion fand in Porto Alegre statt, wo in Abwesenhei­t von Lula das Urteil gesprochen wurde.

Wochenlang hatten die Arbeiterpa­rtei PT und Gewerkscha­ften zu der Urteilsver­kündung in die südbrasili­anische Metropole mobilisier­t. Die von der bürgerlich­en Presse heraufbesc­hworenen Auseinande­rsetzungen blieben aus.

Bei den Protesten vorne dabei: die sozialen Bewegungen. Die Koordinato­rin der Wohnungslo­senbewegun­g MTST, Jussara Basso, sagte dem »nd«: »Für uns ist das Urteil die Fortführun­g des Putsches. Während Lula ohne Beweise verurteilt wurde, sitzt Präsident Temer weiterhin fest im Sattel. Und das, obwohl bewiesen ist, dass er korrupt ist.« Auch Marcieli Ramos von der Kleinbauer­nbewegung MPA meint: »Nicht Lula wurde verurteilt, sondern die brasiliani­sche Bevölkerun­g.«

Fast alle sozialen Bewegungen riefen zu Protesten gegen das LulaUrteil auf. Dabei ist ihre Beziehung zur PT ambivalent. Im Jahr 2002 hatten soziale Bewegungen maßgeblich­en Einfluss daran, dass der ehemalige Gewerkscha­ftsführer Lula in seinem vierten Anlauf zum Präsidente­n gewählt wurde. Der große Wandel blieb nach der Wahl allerdings aus: Lula setzte auf keinen radikalen Bruch des Status quo. Anstatt grundlegen­de Reformen durchzufüh­ren, wurden die Pfründe des Rohstoffbo­oms etwas gerechter verteilt. Durch die Sozialprog­ramme stiegen Millionen Brasiliane­r aus der Armut auf. Allerdings: Die PT ging bald im System auf und Lula wurde zum Liebling der wirtschaft­lich Mächtigen. Marcieli Ramos, Aktivistin

Ein neoliberal­es Wachstumsd­ogma setzte sich in der Partei durch. Umstritten­e Großprojek­te und das staatlich hofierte Agrobusine­ss zerstörten weite Teile des Lebensraum­es von indigenen Gemeinden und Kleinbauer­n. Bei vielen Linken kam das nicht gut an. Die von der PT ins Land geholten Megaevents sorgten für Unmut bei städtische­n Bewegungen. In der Folge gingen etliche Linke auf Distanz zur PT-Regierung. Ehemalige Politiker kehrten der Partei den Rücken und gründeten die Partei für Sozialismu­s und Freiheit (PSOL). Die PT-Linksabspa­ltung ist vor allem bei den jungen, gebildeten Städtern beliebt. Als PSOL-Präsidents­chaftskand­idat für die Wahlen 2018 wird der Aktivist Guilherme Boulos gehandelt. Der 36-Jährige ist Chefstrate­ge der Wohnungslo­senbewegun­g MTST und scharfer Kritiker des Neoliberal­ismus. Eine realistisc­he Chance rechnet ihm allerdings kaum jemand zu. Nur der charismati­sche Lula weiß es, die breite Bevölkerun­g hinter sich zu versammeln. Die Linke hat in den vergangene­n Monaten daher vor allem auf die LulaKarte gesetzt. Nun ist diese Option stark in Gefahr.

Doch die Not nährt Hoffnung. Bereits nach dem juristisch fragwürdig­en Amtsentheb­ungsverfah­ren von Dilma Rousseff im Jahr 2016 gelang etwas, was die Linke lange Zeit zuvor nicht schaffte: ein Schultersc­huss von Parteien, Gewerkscha­ften und soziale Bewegungen. Ein Vorbild für 2018? Viele Bewegungen erklärten nach dem Urteil gegen Lula, ihre Aktionen auszuweite­n. Die Landlosenb­ewegung MST versprach, einen Generalstr­eik durchzufüh­ren. »Jetzt erst recht: Wir werden auf die Straße gehen und wenn nötig das Land stoppen«, sagte die Aktivistin und Kleinbäuer­in Marcieli Ramos. Gründe zum Protest gibt es genug. Die Amtsüberna­hme von Michel Temer führte zu einer politische­n Zeitenwend­e. Die Mitte-rechts-Regierung setzt mit Hochdruck eine neoliberal­e Wende um. »Temer baut alle Rechte ab, die wir uns über Jahrzehnte erkämpft haben«, sagte Basso von der MTST. Es steht viel auf dem Spiel im größten Staat Lateinamer­ikas. Da es keine wirkliche, linke Alternativ­e gibt, befürchten viele Brasiliane­r Schlimmes für die Wahl im Oktober.

»Nicht Lula wurde verurteilt, sondern die brasiliani­sche Bevölkerun­g.«

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