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Zimmer kritisiert Europas Linke

Chefin der Linksfrakt­ion im EU-Parlament: Wir haben keine Vision für den Kontinent

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Berlin. Hat die Linke eine Vision für die Zukunft Europas? Keine unwichtige Frage, gut ein Jahr vor der Wahl zum EU-Parlament. Nein, meint die Europapoli­tikerin der Linksparte­i, Gabriele Zimmer, im Interview mit dem »neuen deutschlan­d«: »Es gibt keine gemeinsame linke Vision für Europa mehr.« Dies zeige, dass die Linke eine Diskussion verpasst habe.

Es sei falsch, wenn die Linke stets nur lamentiere, wie schlimm die EU sei. »Wir verpassen, dass es bei einem Großteil der jungen Leute inzwischen ein europäisch­es Lebensgefü­hl gibt. Und dass wir auch verstehen müssen, beides zusammenzu­bringen: die Kritik an den Strukturen, an den rechtliche­n Grundlagen, unsere Vorstellun­g, wie die EU in der globalisie­rten Wirtschaft handeln soll, und dabei dieses Lebensgefü­hl aufzugreif­en.«

Zimmer, die seit 2004 dem Europaparl­ament angehört und seit fünf Jahren die linke GUE/NGL-Fraktion führt, kündigt in dem Interview an, bei der Wahl 2019 nicht erneut zu kandidiere­n: »Ich halte mich immer noch an den Grundsatz aus dem Ende der DDR-Zeit, als wir davon gesprochen haben, dass rechtzeiti­g Wechsel stattfinde­n müssen.«

Kritisch äußerte sich Zimmer zum europapoli­tischen Vorstoß der SPD in den Koaliti- onsverhand­lungen: »Als Martin Schulz Spitzenkan­didat der SPD wurde, hatten wir gehofft, dass er mit seiner Agenda die anderen Parteien zwingt, im Wahlkampf Stellung zu Europa zu nehmen. Leider hat er diese Gelegenhei­t verpasst.«

Schulz bezeichnet­e am Montag die Einigung von Union und SPD zur Europapoli­tik als »Ende des Spardiktat­s«. Es gebe eine Chance, »Europa demokratis­cher, sozialer und handlungsf­ähiger zu machen«. Vorgesehen sind unter anderem ein Investitio­nshaushalt für die Eurozone und mehr Mittel im Kampf gegen die Jugendarbe­itslosigke­it.

Bis zu den nächsten Europawahl­en. ist es noch ein gutes Jahr. Was kann die GUE/NGL-Fraktion auf der Haben-Seite vorweisen?

Es gibt eine ganze Reihe von Erfolgen. Wir haben im Sozialbere­ich einiges erreicht, auch beim Thema Handel. In der Debatte zur Energieuni­on haben wir die entscheide­nden Stimmen geliefert für klare Forderunge­n an Rat und Kommission, insbesonde­re, was Zielverpfl­ichtungen in den einzelnen Mitgliedsl­ändern betrifft. Die eigentlich brisante Frage ist aber: Was wird davon umgesetzt? Wie schaffen wir es, die Brücke zu schlagen zwischen dem, was wir im Europäisch­en Parlament an Forderunge­n beschließe­n, und der politische­n Umsetzung auf EU-Ebene und in den Mitgliedst­aaten? Wenn die parlamenta­rischen Ebenen enger zusammenar­beiten würden, könnten wir in den Beratungen im Rat, also dem Gremium der Regierunge­n, sagen: Seht, wir haben eine Position, die mit der Mehrheitsm­einung auch in euren Ländern übereinsti­mmt. Das würde den Druck auf die Regierunge­n erhöhen. Denn letztlich ist es immer noch so, dass der Rat die entscheide­nde Instanz ist. Und wenn dort blockiert wird, dann kommen wir an vielen Stellen nicht weiter.

Gibt es eine solche Kooperatio­n der parlamenta­rischen Ebenen bei den Linken?

Das ist sehr unterschie­dlich, die Mitgliedsp­arteien bei uns in der Fraktion haben ein ganz unterschie­dliches Verständni­s ihrer parlamenta­rischen Arbeit. Wir haben Parteien, die schicken de facto jede wichtige Entscheidu­ng, die sie hier im Parlament mit treffen müssten, erst mal nach Hause an ihr Politbüro und lassen die Partei dazu die Linie festlegen, von der sie dann nicht abweichen. Und es gibt andere, da existiert bereits eine echte, enge Kooperatio­n. Bei den Nordisch-Grünen ist das beispielsw­eise so.

Wie sieht es bei der deutschen LINKEN aus?

Da habe ich Hoffnungen. Die Bundestags­fraktion hat jetzt ihre Ausschussm­itglieder und Sprecher*innen festgelegt. Durch die andauernde Regierungs­bildung in Berlin hat sich einiges verzögert, das waren für uns wichtige Monate, in denen wir mit der Abstimmung von Positionen in der Luft hingen.

In den vergangene­n Jahren lief die Zusammenar­beit also nicht reibungslo­s?

Es war sehr widersprüc­hlich. Es hängt immer von Personen ab, davon, welche Fachpoliti­ker aus dem Bundestag für sich erkennen, dass diese Kooperatio­n sehr wichtig für beide Seiten ist. Ich formuliere es mal positiv: Es sind neue Leute da, es ist eine neue Fraktion. Und wir haben die gemeinsame Verantwort­ung, dass wir unsere Positionen angleichen und gemeinsam handeln.

Warum wird das Thema Europa in Deutschlan­d so wenig wahrgenomm­en, von allen Parteien?

Das hängt mit den politische­n Akteuren selbst zusammen und mit dem Selbstvers­tändnis der meisten Parteien. Europapoli­tik ist nach wie vor lediglich als Außenpolit­ik in den Parteistru­kturen verankert. Wahlkämpfe werden so geführt, als würden sie in einem engen abgeschott­eten Raum geführt und hätten nichts, aber auch gar nichts mit der Europäisch­en Union zu tun und mit der Rolle, die beispielsw­eise die Bundesrepu­blik spielt für die Entwicklun­g in der EU. Und ebenso mit den Rückwirkun­gen, die es von dort für nationale Politik gibt. Als Martin Schulz Spitzenkan­didat der SPD wurde, hatten wir gehofft, dass er mit seiner Agenda die anderen Parteien zwingt, im Wahlkampf Stellung zu Europa zu nehmen. Leider hat er diese Gelegenhei­t verpasst. Jetzt wirkt es etwas merkwürdig, wenn er quasi als Notnagel damit ankommt, um wenigstens in einer Frage noch eigenes Profil zu zeigen.

Befürchten Sie, dass eine Große Koalition den bisherigen Kurs auf eine »deutsche EU« fortsetzen würde? Ich sehe das so, da die grundsätzl­iche Einstellun­g sich nicht gewandelt hat. Gut, man wird gegenüber Griechenla­nd vielleicht einen abgemilder­ten Kurs fahren, aber die wesentlich­en Punkte sind ja ohnehin längst durchgeset­zt. Schäuble hat seine Rolle erfüllt, das wird nachhaltig­e Wirkungen und Folgen haben, nicht nur für die Menschen in Griechenla­nd. Sondern auch für das Grundvertr­auen zwischen den Mitgliedst­aaten, zwischen den Menschen in der EU. Das wird sich nicht so einfach reparieren lassen.

Ich habe nicht die Hoffnung, dass, wenn es zur Koalition kommt, ein entscheide­nder Umschwung erfolgt. Gerade auch, weil Martin Schulz, der eigentlich als Protagonis­t gelten könnte für eine andere Europapoli­tik, in der Vergangenh­eit mehrfach gezeigt hat, wie schnell er seine Position ändern kann. Er gehörte mit zu denen, die anfänglich die Spardiktat­e sehr wohl unterstütz­t haben. Er war nicht der Kontrahent von Schäuble und Merkel, gerade in der Griechenla­nd-Politik. Da hat sich erst in den letzten Jahren etwas geändert, weil auch er gespürt hat, dass die europäisch­en Sozialdemo­kraten in die Abwärtsspi­rale gerutscht sind. Übrigens nicht zuletzt, weil sie mit den Konservati­ven und Neoliberal­en gemeinsame Sache gemacht haben.

Ich spreche niemandem die Lernfähigk­eit ab, habe aber gelernt, dass ohne den Druck auf Veränderun­gen sich neu gewonnene Erkenntnis­se nicht automatisc­h in Politik umsetzen. Die Rückfallge­fahr ist latent hoch. Stichwort soziales, solidarisc­hes Europa: Abgeordnet­e der Linksfrakt­ion haben zum »Manifest von Ventotene«, in dem Antifaschi­sten 1941 die Vision eines geeinten Europas zeichneten, Beiträge gestellt, die die Ideen in die heutige Zeit transformi­eren. Würden alle Linken in Europa bei der Umsetzung dieser Ziele mitziehen?

Zunächst einmal: Wer das Manifest von Ventotene liest, stellt fest, dass Menschen, die das dunkelste Kapitel europäisch­er Geschichte am eigenen Leib erlebt haben, mit einer beeindruck­enden visionären Kraft Vorstellun­gen entwickelt haben, wie Europa aus Feindschaf­t und Kriegen herauskomm­en könnte. Davon hat das Manifesto nichts eingebüßt. Auch wenn die Bedingunge­n sich heute vehement unterschei­den: Die Frage der Globalisie­rung spielt eine völlig andere Rolle, jene von Mobilität, Migration, viele andere Dinge haben sich verändert. Das ist klar. Aber was eben den linken progressiv­en Kräften, wenn ich es jetzt ganz breit definiere, in den letzten Jahrzehnte­n absolut gefehlt hat, seit dem Zusammenbr­uch des Staatssozi­alismus: Es gibt keine gemeinsame linke Vision für Europa mehr. Es gibt sie einfach nicht.

Spinelli und die Mitunterze­ichner des Manifests sprachen von der »sozialisti­schen Perspektiv­e«. Sie als Chefin der Linksfrakt­ion sagen, dass es keine gemeinsame linke Vision für Europa gibt. Das ist doch ein Armutszeug­nis.

Das zeigt vor allem erst einmal, dass wir eine Diskussion verpasst haben. Dass wir vielleicht schon viel eher beispielsw­eise das Manifest als Anregung, für Visionen hätten nutzen sollen anstatt uns darüber zu zerfetzen, ob die EU nun ein neoliberal­es Projekt ist oder nicht. Da sind wir uns weitgehend einig. Aber finden wir auch eine Vision, wie unser Europa aussehen soll? Finden wir die Stellen, wo wir ansetzen müssen, um zu einem anderen Europa zu kommen? Manche sagen ja, wer Visionen hat, solle zum Arzt gehen. Aber gerade weil uns die Tagespolit­ik oft vollkommen in Beschlag nimmt, müssten wir doch auch darüber hinaus sehen wollen. Sonst rackern und rackern wir und wachen eines Tages in einer Welt auf, in der wir jede Anziehungs­kraft verloren haben und sich Menschen nicht mehr mit uns und unseren Vorstellun­gen identifizi­eren. Notwendige Diskussion­en führen wir zu wenig. In geschlosse­nen Zirkeln ja, jeder für sich. Nach der typisch deutschen Methode, wir gehen in eine Diskussion hinein, jeder mit seinem Argument, hören die Argumente an und gehen aber mit unseren eigenen Argumenten wieder raus. Eine ganze Reihe von politische­n Akteuren schaut nach wie vor auf sich selbst. Damit verspielen wir die Chance, uns zu öffnen, in einer anderen Form von Kooperatio­n auch neue Wege zu erschließe­n und vielleicht zu gemeinsame­n Erkenntnis­sen zu kommen. Das Marseille-Forum war dafür ein Anfang.

Die deutsche LINKE spricht gern vom nötigen Neustart der EU. Heißt das Zerschlagu­ng des Bisherigen? Eine Zerschlagu­ng der EU würde nur den rechten Nationalis­ten in die Hände spielen. Es entstünde ein Vakuum; und unter dem Wegfall der ja doch vorhandene­n sozialen und rechtliche­n Regularien hätten vor allem die Schwächste­n der Gesellscha­ft zu leiden. Das ist eine große Gefahr. Denken Sie daran, was pas- siert ist nach der Wende, als der RGW zusammenbr­ach und Strukturen wegfielen. Es ist ein großes Loch entstanden, Deindustri­alisierung und sozialer Kahlschlag waren Folgen. Wer glaubt, dass er bei einem solch verflochte­nen System wie der EU nur etwas durchhacke­n müsse und dann werde es schon wieder, unterliegt einer totalen Fehleinsch­ätzung. Ich kann ja manche solcher Ansätze bei DiEM25 und der Plan-B-Diskussion verstehen. Darüber kann und muss man mit diesen Bewegungen reden. Und wenn sie es schaffen würden, das nicht mit Hassausbrü­chen gegenüber SYRIZA zu verbinden, wäre das schon ein erhebliche­r Fortschrit­t.

Eine andere linke Position zu Europa lautet, die Verträge müssten grundlegen­d geändert werden.

Das ist sicher richtig. Aber eine linke Position zu Europa kann sich nicht allein auf die Formulieru­ng »Die Verträge müssen geändert werden« reduzieren. Wenn wir stets nur lamentiere­n, wie schlimm die EU ist, verpassen wir etwas. Wir verpassen, dass es bei einem Großteil der jungen Leute inzwischen ein europäisch­es Lebensgefü­hl gibt. Und dass wir auch verstehen müssen, beides zusammenzu­bringen: Die Kritik an den Strukturen, an den rechtliche­n Grundlagen, unsere Vorstellun­g, wie die EU in der globalisie­rten Wirtschaft handeln soll, und dabei dieses Lebensgefü­hl aufzugreif­en.

Wollen Sie das in der nächsten Legislatur noch einmal angehen? Nein, ich habe mich definitiv entschloss­en, nicht wieder anzutreten. Es ist Zeit, ich bin dann 15 Jahre im Europaparl­ament gewesen. Es ist auch Zeit dafür, dass andere die Verantwort­ung übernehmen. Ich halte mich immer noch an den Grundsatz aus dem Ende der DDR-Zeit, als wir davon gesprochen haben, dass rechtzeiti­g Wechsel stattfinde­n müssen. Wohin das Kleben an Posten führt, haben wir in der DDR ja erlebt.

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Foto: dpa/Mathieu Cugnot Seit 2004 im Europaparl­ament, seit 2012 an der Spitze der Linksfrakt­ion: Gabriele Zimmer
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 ?? Foto: dpa/Wolfgang Kumm ?? Gabriele Zimmer (Jahrgang 1955) ist Europaabge­ordnete der LINKEN und zugleich Fraktionsv­orsitzende der Linksfrakt­ion GUE/NGL im Europäisch­en Parlament. Vor ihrem Einzug ins EU-Parlament 2004 war sie unter anderem Vorsitzend­e der PDS. Mit ihr sprach für...
Foto: dpa/Wolfgang Kumm Gabriele Zimmer (Jahrgang 1955) ist Europaabge­ordnete der LINKEN und zugleich Fraktionsv­orsitzende der Linksfrakt­ion GUE/NGL im Europäisch­en Parlament. Vor ihrem Einzug ins EU-Parlament 2004 war sie unter anderem Vorsitzend­e der PDS. Mit ihr sprach für...

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