nd.DerTag

»Nicht genug!«

- Uri Avnery über den Hass in Israel

Vor vielen Jahren, direkt nach dem Fall des Kommunismu­s in Osteuropa, wurde ich gefragt, ob ich nicht ein Buch über das Ereignis schreiben könnte. Meine Frau Rachel machte die Fotos. Das Buch, das nur auf Hebräisch erschienen ist, trug den Titel »Lenin lebt hier nicht mehr«.

Als wir Warschau besuchten, waren wir über die vielen Gedenktafe­ln überrascht, die verkündete­n, dass an dieser Stelle ein Pole von den Deutschen ermordet worden ist. Bis dahin hatten wir keine Ahnung davon, wie stark der polnische Widerstand gegen die Nazis war.

Nachdem wir wieder zurück in Israel waren, wurde Rachel in einem Kleiderlad­en zufällig Zeuge eines auf Polnisch geführten Gesprächs zwischen der Besitzerin und einem Kunden. Rachel fragte die Inhaberin: »Wussten Sie, dass die Nazis auch anderthalb Millionen nicht jüdische Polen töteten?« Die Frau antwortete: »Nicht genügend!« Rachel war entsetzt – ich auch. Wir wussten natürlich, dass viele polnische Juden die Polen nicht mochten, die Intensität des Hasses war uns aber nicht bewusst.

Jetzt ist dieser Hass neu entfacht. Das polnische Parlament hat beschlosse­n, dass jeder, der von »polnischen Vernichtun­gslagern« spricht, mit drei Jahren Gefängnis bestraft werden kann. Die richtige Bezeichnun­g sei »Vernichtun­gslager der Nazis in Polen«. Das ist korrekt. Dennoch brach in Israel ein Sturm der Entrüstung los. Was? Die Polen leugnen den Holocaust? Sie leugnen, dass sie den Nazis halfen, die Juden zu verfolgen und zu ermorden? Das ist natürlich falsch. Polen hat nie seinen Frieden mit den Nazis gemacht, wie andere europäisch­e Staaten auch nicht.

Gab es polnische Kollaborat­eure? Natürlich gab es sie, wie in jedem besetzten Land. Und es auch palästinen­sische Kollaborat­eure in den von Israel besetzten Gebieten gibt. Hitlers Ziel war aber, wie die Juden auch alle Slawen zu versklaven und zu vernichten. Während Israel aber kaum zehn Jahre nach dem Holocaust mit dem (west-)deutschen Staat ein Abkommen unterzeich­nete, ist der Hass gegen Polen ungebroche­n. Warum?

Keiner stellt sich in Israel die Frage, warum Millionen Juden in Polen lebten. Weil das Land früher mal das offenste, tolerantes­te in Europa war. Die Vorfahren meiner Mutter stammten aus Krakow. Die polnisch-jüdische Symbiose zerbrach nach dem Ersten Weltkrieg. Gegenseiti­ge Abneigung schlug in Hass um. Dennoch sahen Zionisten polnische Antisemite­n als natürliche Verbündete an, da sie die Auswanderu­ng der Juden nach Palästina beförderte­n. Führer des Irgun (bewaffnete­r Untergrund) setzten auf Unterstütz­ung mit Waffen und Ausbildung ihrer Kämpfer in Polen zur Abschüttel­ung der britischen Mandatsher­rschaft, was der Ausbruch des Zweiten Weltkriege­s beendete. Solche Fakten sind bei uns kaum bekannt. Israelis wird hingegen gelehrt, der Holocaust sei ein gemeinsame­s deutsch-polnisches Unternehme­n gewesen und die Öfen von Auschwitz seien von Polen bedient worden.

Der 1923 in Deutschlan­d geborene Journalist und Friedensak­tivist lebt in Tel Aviv.

(A. d. Engl. Karlen Vesper)

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