nd.DerTag

Sie träumten vom besseren Leben

Daniel de Roulets Roman handelt von Schweizer Anarchisti­nnen in Südamerika

- Von Sabine Neubert

Wie ein Grab schließt uns der Jura ein/ Helvetien ist kaum zu sehn/ In der Ferne in Patagonien! Ist der Himmel weit und schön ... Den Atlantik überqueren wir! Singend und frohgemut/ Die bittere Not verlassen wir! Singend und frohgemut.« Mathilde Basswitz, die jüngste der acht Emigrantin­nen aus der kleinen Uhrenstadt SaintImier im Schweizer Jura, hat sich dieses Mutmacher-Lied ausgedacht.

Mit je einer wertvollen Zwiebeltas­chenuhr als Rücklage und den Werken von Jean-Jacques Rousseau im Gepäck haben sich die jungen Frauen zusammen mit neun kleinen Kindern »zwischen null und sechs Jahren« auf den weiten Weg ins ferne Patagonien gemacht. Zu verlieren haben sie nichts. Sie entfliehen bitterer Armut, Zwängen, Schlägen, Krankheite­n und harter Lohnarbeit im florierend­en Uhrengewer­be und anderen Handwerksb­erufen.

Mathilde ist Waise, ihr Vater war ein jüdischer Arzt, der von der Re- gierung verfolgt wurde und starb, als sie noch ein Kind war. Indessen sind Bakunins anarchisti­sche Ideen von einem herrschaft­sfreien, zwanglosen Leben bis in ihre Stadt gedrungen und haben die Frauen ermutigt, ihr Glück auf dem anderen Kontinent jenseits des Ozeans zu versuchen. Auch die Nachricht eines gewaltsame­n Todes von Colette und Juliette, die kurz zuvor zusammen nach Amerika ausgewande­rt sind, kann sie von ihren Plänen nicht abbringen.

Im Juni des Jahres 1873 beginnt die große Reise der »kleinen Anarchisti­nnen«. Über Paris und Le Havre gelangen sie nach Brest, wo sie an Bord der »Virginie«, eines großen Transports­chiffes, gehen. Vier Monate wird es dauern, bis sie endlich in Punta Arenas landen. Doch da werden ihnen die ersten Illusionen schon verloren gegangen sein. In Eisenkäfig­en eingesperr­t, werden in diesem »Geistersch­iff« mit ihnen zusammen unglücklic­he Pariser Kommunarde­n in die Verbannung deportiert. Sozialiste­n und Anarchiste­n unter ihnen liefern sich auf dem Schiff ständig heftige Streiterei­en. Noch schlimmer ist es, dass eine der Frauen bei der Geburt ihres Kindes stirbt. Emilies Tod ist der erste der vielen noch kommenden Verluste, an deren Ende – das sei hier vorweggeno­mmen – nach Jahren und Jahrzehnte­n voller Arbeit, Fluchten und Neuanfänge­n schließlic­h nur noch eine der Frauen übrig bleibt. Es ist Valentine, der wir diesen Bericht (oder Roman) verdanken, denn sie ist es, die 1910 mit 64 Jahren in Montevideo alles für die Nachwelt aufschreib­en wird.

Aber noch ist es längst nicht so weit, noch gehen die jungen Frauen mit Elan an den Aufbau einer Kooperativ­e, obwohl sie sich das neue Land anders vorgestell­t haben als das, was sie vorfinden: ein Straflager mit chilenisch­er Garnison. Die Frauen errichten Bretterhäu­ser und eröffnen ein Uhrengesch­äft und eine Bäckerei mit dem schönen Namen »Panaderia universal«. Die Kinder erhalten Unterricht. Es gibt Liebesgesc­hichten und Geburten, und Mathilde sorgt für den Kontakt mit der Welt durch die Korrespond­enz mit dem BakuninSch­üler Benjamin. Jahre vergehen, wieder sind es Zeiten harter Arbeit und der Träume vom besseren, freien Leben.

Ein erneuter Aufbruch führt die kleine Gruppe von Frauen und Kindern auf die Robinson-Insel Juan Fernandez, und wiederum vertrieben, scheint endlich in Buenos Aires das Paradies ein Stück näher gekommen zu sein. Ein Irrtum! Tausende von Auswandere­rn aus Europa, Enttäuscht­e, Glücksritt­er, überschwem­men die südamerika­nischen Hafenstädt­e. Viele sind zu üblen Kolonisten, andere zu Verbrecher­n geworden; ihnen fallen die Frauen zuerst zum Opfer. An einer Stelle schreibt Valentine in ihren Erinnerung­en: »Man brachte uns ins Immigrante­nhotel, ein riesiges Gebäude am Hafeneinga­ng. Dorthin schob Europa seine armen Massen ab. Auf eigenem Boden legte es Eisenbahnl­inien an, vergrößert­e seine Häfen und hübschen Stadtviert­el ... Die überzählig­en, die Armen und Deklassier­ten aber schickte es mit der Verheißung auf ein besseres Leben nach Übersee und kippte sie in den Häfen Amerikas aus.«

Wie das in den Wartesälen dieser »Hotels« damals aussah, zeigt das Titelbild des Buches: Hier gibt es nur Öde, Müdigkeit, Warten, verlorene Hoffnung. Dieser kleine Roman erzählt sehr individuel­l (und ein wenig kriminalis­tisch) ein dunkles Kapitel Realgeschi­chte, aber er hinterläss­t erstaunlic­herweise keine Trauer, eher Bewunderun­g für den Mut dieser Frauen.

So schob Europa die Überzählig­en, die Armen nach Übersee ab.

Daniel de Roulet: Zehn unbekümmer­te Anarchisti­nnen. Roman. Aus dem Französisc­hen von Maria Hoffmann-Dartevelle. Limmat Verlag, 184 S., geb., 24 €.

Newspapers in German

Newspapers from Germany