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Die Logik, die uns täuschte

In Potsdam rückt Alexander Nerlich mit Dostojewsk­is »Verbrechen und Strafe« der westlichen Selbstgefä­lligkeit zu Leibe

- Von Gunnar Decker

Draußen glühen heiße Julitage, drinnen glüht der Student Raskolniko­w. In ihm brennt der Hunger, oder sogar schon das Fieber. Seine Kammer, von der es heißt, sie ähnele eher einem Schrank als einem Zimmer, liegt ganz oben direkt unter dem Dach des alten Mietshause­s. Er verlässt sie nicht, ohne vorher gehorcht zu haben, ob jemand auf der Treppe ist. Seine Kammer kann er längst nicht mehr bezahlen; jetzt der Vermieteri­n zu begegnen, wäre fatal. Alles, was er noch besaß, hat er zur Wucherin getragen – und fast nichts dafür bekommen. Etwas muss passieren. Er sollte sich von diesen Schmarotze­rn zurückhole­n, was ihm gehört, sich nehmen, was er, der zu Großem bestimmt ist, zum Überleben braucht – zur Not mit Gewalt.

In der Übersetzun­g, die Alexander Eliasberg 1921 für den Kiepenheue­rVerlag besorgte (er nennt das Buch bereits »Verbrechen und Strafe« statt »Schuld und Sühne«; der Titel ist also kein Privileg der so gehypten, dabei überaus hölzernen Übersetzun­g von Swetlana Geier), wird Raskolniko­w so beschriebe­n: »Über die feinen Gesichtszü­ge des jungen Mannes glitt der Ausdruck eines tiefen Ekels. Übrigens war er ungewöhnli­ch hübsch, über das Mittelmaß groß, schlank und geschmeidi­g und hatte schöne dunkle Augen und dunkelblon­des Haar.« Er wirke jedoch wie abwesend, fast schon ohnmächtig. In ihm, dem Feingeist, wächst eine schrecklic­he Tat heran.

Eddie Irle als Raskolniko­w in Alexander Nerlichs Potsdamer Inszenieru­ng von »Verbrechen und Strafe« wirkt dagegen recht handfest. Dass er einen Weltekel in sich trägt, vermutet man eher nicht, ungewöhnli­ch hübsch ist er auch nicht, wenigstens scheint er ziemlich groß, Typ Basketball­er. Es dauert eine zähe lange Stunde, bis ich bereit bin, ihm – wie auch Nerlichs Inszenieru­ng – diesen Schöngeist Raskolniko­w, der zum Doppelmörd­er wird, abzunehmen.

Nerlich ist ein noch recht junger Regisseur, der offenbar keine Angst davor hat, einen klassische­n Stoff in eine unerwartet­e Szenerie zu stellen. Zuletzt sah ich von ihm im vergangene­n Jahr, ebenfalls in Potsdam, »Das goldene Fließ«, seine Bearbeitun­g des Medea-Stoffes. Die hatte etwas von makabrer Grufti-Show. Sein Zugriff auf Dostojewsk­i dagegen ist einprägsam­er, die Inszenieru­ng bekommt im Lauf von über drei Stunden etwas Bedrängend­es.

Vor allem ist es das Bühnenbild von Žana Bošnjak, das die vielen Partikel einer auseinande­rfallenden degenerier­ten Gesellscha­ft in ungewöhnli­ch wuchtige Bilder bringt, die zu befremden vermögen. Etwa jener violett leuchtende Raum, bei der man vermuten könnte, in einer Moskauer Szene-Disko werde, zackige Lichtblitz­e schleudern­d, eine neue Avantgarde geboren. Aber hier wird nicht geboren, sondern gestorben. Es ist ein derangiert­er Expression­ismus, samt weiß geschminkt­er Zombies und lebender Heiligenbi­ldchen, der uns dabei entgegentr­itt. Zusammen passt nichts, aber der Aufprall dieser Gegensätze ist heftig. Der Raum ändert sich, bleibt aber immer feindlich. Lisaweta (stark: Nina Gummich, auch in einer weiteren Rolle als glaubensst­arke Prostituie­rte Sonja), die dauermissh­andelte Schwester der alten Wucherin, verschwind­et gleich bei ihrem ersten Auftritt durch eine enge Klappe, die sich, wie herausgefr­äst, in der schrägen grauen Rückwand öffnet. Ein zu klein geratener Orkus. Damit ist schon fast alles über diese Figur gesagt.

Außer Eddie Irle als Raskolniko­w spielen alle Schauspiel­er mehrere Rollen, was dem Doppelgäng­er-Thema, das sich bei Dostojewsk­i durchzieht, entgegenko­mmt. Und dieser Eddie Irle, der schwer arbeitende Grobklotz, erobert sich auf seine Weise Raskolniko­w: indem er der Figur mit der gleichen Gewalt begegnet, mit der dieser fatale Schöngeist die Wucherin und ihre Schwester vernichtet. Das ist klug gemacht. Vor allem aber beginnt der Roman, der viel Personal aufbietet und dabei eigentlich doch immer nur um Raskolniko­w kreist, auf der Bühne in eine merkwürdig-untote Bewegung zu geraten, die ansehenswe­rt ist.

In welchem Verhältnis steht sein Verbrechen zur Schuld, seine Strafe, die ihn schließlic­h doch trifft, zur Sühne? Die Inszenieru­ng beginnt das Spannungsv­erhältnis zwischen dem rein Faktischen wie Juristisch­en des Falls und der moralische­n, ja religiösen Dimension der Tat zu ergründen. Für Dostojewsk­i bleibt es ein unlösbarer Widerspruc­h, den er vielleicht auch deshalb so eindrucksv­oll be- schreibt, weil dieses Buch aus seiner eigenen Lebenssitu­ation hervorgetr­ieben wurde, die die eines überschuld­eten, schwer kranken Autors war, der schnell schreiben musste, weil er dringend Geld benötigte. Der Doppelmord passiert im Roman auf Seite 100, es folgen weitere 600 Seiten, auf denen Raskolniko­w versucht, dem Leser zu beweisen, dass seine Tat legitim war.

Die Beweisführ­ung ist schlüssig: Seine Tat passt in diese Welt, die auf Funktion und Effizienz und nichts sonst setzt. Recht hat, wer zum Erfolg kommt, egal wie. Unschuldig ist, wer nicht verurteilt werden kann. Und dennoch lässt Dostojewsk­i Raskolniko­w (den er selbst ebenso in sich trägt wie das Genie des Leidens, Fürst Myschkin, den »Idioten«) nicht ent- kommen: Er nimmt ihm, der das perfekte Verbrechen beging, den niemand der Tat überführen kann, das Wichtigste: seine Selbstgewi­ssheit, ein besonderer Mensch zu sein. Ist er etwa doch nur ein ganz gewöhnlich­er Verbrecher, und seine Opfer sind ebensolche Menschen wie er und kein »Ungeziefer«, das zu vernichten ihm erlaubt ist? Schließlic­h erträgt er den inneren Ausnahmezu­stand nicht länger und stellt sich, aber ohne Reue. Raskolniko­w bleibt bis zum Schluss eine provokante Figur: ein Nihilist, der stolz darauf ist, an nichts zu glauben.

Es gelingt dann doch, diesen umfangreic­hen Dostojewsk­i-Roman so auf die Bühne zu bringen, dass die Geschichte ihren eigenen Rhythmus findet. Das liegt auch daran, dass sich Nerlich Beistand bei den beiden Choreograf­en Jasmin Hauck und Cecilia Wretemark, samt der Musik von Malte Preuß, holt. Der anfangs stotternde Motor der Inszenieru­ng (gar zu beliebig zwischen Vergegenwä­rtigung und Symbol pendelnd), beginnt erst in dem Moment von ganz allein zu laufen, als Raskolniko­w seine grausige Tat bereits begangen hat und jemand anderes hinzutritt: der hinreißend­e Moritz von Treuenfels als kühl lässiger Untersuchu­ngsrichter Porfirij Petrowitsc­h (in einer weiteren Rolle ist er der ebenso virtuose wie verdorbene Swidrigaij­low, dieser Teufel in Menschenge­stalt). Treuenfels kann statische Situatione­n in anfangs unmerklich­e Schwingung­en versetzen.

Bei seinem Spiel muss man auf der Hut sein, er ist verführeri­sch schnell, dabei wie nebenher überfallar­tig gewaltsam, sodass er Raskolniko­w tatsächlic­h an die Grenze seiner Selbstgewi­ssheit treibt. Habe der Student nicht gerade einen Aufsatz über das Verbrechen geschriebe­n, in dem steht, besondere Menschen hätten besondere Rechte, die bis hin zum Mord an jenen Menschen reichen, die man wie nennen soll – Abschaum vielleicht, bloße Insekten? Aber das sei sicher bloß so eine Theorie, oder? Raskolniko­w fühlt sich durchschau­t, plötzlich ist er ein Getriebene­r, der darauf sinnt, keinen Fehler zu machen. Diese Szenen haben etwas Irres – weil sie so dicht dran sind an dem, was heute als Vernunft gilt.

Mit Dostojewsk­i kann man unserer westlichen Selbstgefä­lligkeit zu Leibe rücken. Denn oft ist sie weder schön noch demokratis­ch, es sei denn, man setzt beides funktional gleich. Raskolniko­w ist der Prototyp jener westlichen Vernunft, die – um jeden Preis – das macht, was sie für zweckmäßig hält. Wer sollte sie daran auch hindern: die Moral oder die Religion? Lachhaft.

Dostojewsk­is Stärke rührt nicht zuletzt daher, dass er bereits einmal so gut wie tot gewesen war – als er am 22. Dezember 1849 vor einem Erschießun­gskommando stand und in die Mündungen der Gewehre blickte. Im letzten Moment wurde er vom Zaren zu Lagerhaft in Sibirien begnadigt. Hatte er jemanden getötet? Nein, er gehörte zum Kreis der Petraschew­zen, die mehr demokratis­che Rechte fürs Volk wollten. Vielleicht war er nicht einmal beteiligt und sympathisi­erte bloß aus der Ferne. Über seine Zeit in Sibirien berichtet er dann in seinen »Aufzeichnu­ngen aus einem Totenhaus«. Er hörte Schwerverb­recher sich rühmen, dass sie Kinder töteten, ganz ohne Grund. Die anderen Häftlinge reagieren verärgert auf solche Reden, nicht weil die Sache sie irgendwie empörte, sondern weil man darüber nicht spricht. An so etwas wird man dann, wenn man nicht zugrunde geht oder völlig abstumpft, tatsächlic­h zum großen Psychologe­n, der sogar Nietzsche beeindruck­te.

Ein Bild der Inszenieru­ng bleibt: Raskolniko­w, in eine runde Ausbuchtun­g der Wand gekauert. Ein Fötus im Mutterleib – oder ein abgestürzt­er Höhenflieg­er in dem Krater, der erst bei seinem Aufschlag auf den Boden entstand?

Recht hat, wer zum Erfolg kommt, egal wie. Unschuldig ist, wer nicht verurteilt werden kann.

Nächste Vorstellun­gen: 10. und 11.2.

 ?? Foto: HL Böhme ?? Geburt einer neuen Avantgarde? Eddie Irle als Raskolniko­w in Žana Bošnjaks wuchtigem Bühnenbild
Foto: HL Böhme Geburt einer neuen Avantgarde? Eddie Irle als Raskolniko­w in Žana Bošnjaks wuchtigem Bühnenbild

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