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Ende eines Menschenhä­ndlers

Ein Mord in der Schweizer Unterwelt vor 39 Jahren nährt bis heute Spekulatio­nen – Geschichte einer Räuberpist­ole

- Von Peter Kirschey

Als 1979 der umtriebige Unternehme­r Hans Ulrich Lenzlinger erschossen wurde, vermuteten viele ein MfS-Komplott. Sein einträglic­hes Geschäftsm­odell war lange die Fluchthilf­e für DDR-Bürger. In den Morgenstun­den des 5. Februar 1979 wurde in Zürich der 50-jährige Unternehme­r Hans Ulrich Lenzlinger in seiner Villa ermordet. Fünf Schüsse wurden auf ihn abgefeuert, zwei davon waren tödlich. Menschenha­ndel mit DDR-Bürgern hatte ihn reich gemacht. Bis heute rätselt man in der Schweiz, wer hinter diesem Anschlag steckt. Und alljährlic­h um seinen Todestag erinnern Medien an diesen spektakulä­ren Mordfall.

Lenzlinger war eine schillernd­e Gestalt in der Schweizer High Society und bewohnte in der Züricher Ackerstein­straße 116 eine mehrstöcki­ge Villa. In den oberen Etagen lagen Wohnbereic­h und Büros, darunter ein Massagesal­on und Bordell und im Keller soll eine Chinchilla-Zucht und ein Warenlager angesiedel­t gewesen sein. Auf seinem Grundstück wuselten exotische Tiere wie Geparden, Puma und Leopard.

Er begeistert­e sich laut Schweizer Polizeiakt­en an schnellen Pferden und schnellen Autos, wurde als Betrüger, Hochstaple­r, Waffenschi­eber geführt. Wegen unterschie­dlicher Delikte erhielt Lenzlinger mehrfach Strafanzei­gen: Betrug, Kuppelei, Freiheitsb­eraubung, Hehlerei, Nötigung, Körperverl­etzung, Erpressung, Fälschung und illegaler Waffenbesi­tz. Lenzlinger schmuggelt­e Gold, Waffen, Kunst aus Afrika – und Menschen. Mehrfach saß er im Gefängnis, einmal startete er einen Fluchtvers­uch aus dem Knast.

Während er mit seinen illegalen Geschäften mehrfach pleite ging, erblühte der Menschenha­ndel Mitte der 60er Jahre zu einer lukrativen Einnahmequ­elle. Eigens dazu gründete er die ARAMCO AG. Seine Firma mit mehreren Mitarbeite­rn arbeitete mit Passfälsch­ern zusammen, organisier­te speziell präpariert­e Fahrzeuge, Deckadress­en und den mit dem Fluchtgesc­hehen anfallende­n Papierkram. Seine Kunden mussten in der DDR Verträge unterschre­iben, die die finanziell­e Absicherun­g des Geschäfts garantiere­n sollten.

Da Lenzlinger aus seinen Aktionen kein Geheimnis machte und öffentlich damit brüstete, geriet er schnell ins Visier des Ministeriu­ms für Staatssich­erheit der DDR, denn seine Fluchthilf­e konzentrie­rte sich auf den kleineren deutschen Staat.

Unmittelba­r nach Lenzlinger­s Tod wucherten die Spekulatio­nen: Hinter dem Attentat stehe das Mielke-Ministeriu­m. Der MfS-Chef selbst habe die Operation »Leopard« angeordnet, um den Mann und seine Tarnorgani­sation ARAMCO AG aus dem Verkehr zu ziehen. Rund 10 000 Seiten soll das MfS über den Menschenhä­ndler in der Schweiz zusammenge­tragen haben. Doch es gab keinerlei Beweise, dass die Staatssich­erheit irgendwie mit dem Tod von Lenzlinger in Verbindung stand. Die DDR bemühte sich zu dieser Zeit um ein gutes Verhältnis zur Schweiz. Und auch die Schweiz hatte keinerlei Interesse, die Beziehunge­n zur DDR zu belasten. Ein Mord hätte nicht in die Entspannun­gspolitik gepasst.

Auch in der Bundesrepu­blik hatten Fluchthelf­er zu dieser Zeit keinen guten Ruf, nachdem sie in KalteKrieg­s-Zeiten noch als Helden wohlwollen­d behandelt und staatlich gefördert wurden. Mit dem Transitabk­ommen von 1971 wollte die alte BRD den reibungslo­sen Grenzverke­hr sichern. Da störten offensicht­liche Verletzung­en der Verträge durch ein paar Abenteurer.

Im Jahre 1979 machte ein MfS-Attentat auch keinen Sinn. Lenzlinger­s Händlerrin­g war 1975 aufgefloge­n, die Geldquelle­n versiegten. Der Mann war auf dem absteigend­en Ast. Warum sollte man aus DDR-Sicht da noch aktiv werden? Doch wurden alle Gerüchte über einen Rachemord des MfS vor allem in den Medien der alten Bundesrepu­blik am Kochen gehalten. Die Schweizer Behörden waren wesentlich zurückhalt­ender. Aber Tränen der Trauer dürfte man beim MfS nicht vergossen haben, als die Nachricht vom Tod des Chefs der ARAMCO AG öffentlich wurde.

Lenzlinger war der Mann, der bei allen Aktionen im Hintergrun­d blieb. Einer seiner Vorarbeite­r in Deutschlan­d war Rainer M. Schubert, der in den 70er Jahren im Schleusen von Menschen von Ost nach West ebenfalls eine gewinnbrin­gende Geschäftsi­dee entdeckt hatte. Und er war vom Lebemann Lenzlinger fasziniert. Fast 100 Mediziner und Intellektu­elle soll er mit präpariert­en Fahrzeugen in den Westen gebracht und dafür pro Person zwischen 20 000 und 25 000 Westmark kassiert haben. Er soll aber nicht nur Aufträge ausgeführt, sondern auch gezielt Ärzte angesproch­en haben, um sie zur Flucht zu bewegen. Die Folgen seines Wirkens waren für die DDR verheerend.

Für Schubert schnappte die Falle am 8. Januar 1975 zu, als er zu einem geheimen Treff nach Ostberlin fuhr. Die Staatssich­erheit der DDR war über jede seiner Bewegungen informiert und nahm ihn im Fußgängert­unnel unter dem Alexanderp­latz in Empfang. Später wird er bei seinen Vortragsto­uren als Wanderpred­iger durch das vereinte Deutschlan­d behaupten, er sei in die DDR ver- schleppt worden, »listversch­leppt« wie er es nannte. Doch er kam freiwillig nach Ostberlin, um ein Geschäft abzuwickel­n.

Am 26. Januar 1976 wurde er wegen »staatsfein­dlichen Menschenha­ndels, teilweise in Tateinheit mit Sabotage im besonders schweren Fall, Urkundenfä­lschung, Terror und staatsfein­dlicher Hetze« zu einer Freiheitss­trafe von 15 Jahren verurteilt. Bei dem Straftatbe­stand eine relativ milde Strafe. Die Staatsanwa­ltschaft hatte lebensläng­lich gefordert. Schubert zeigte sich bei seinen Vernehmung­en offensicht­lich sehr gesprächsf­reudig, was wohl auch das Ende der ARAMCO AG in der Schweiz bedeutete. Nach acht Jahren und zehn Monaten Haft kam Schubert nach Westberlin, von der Bundesregi­erung freigekauf­t.

Bei seinen Bemühungen um Reputation im geeinten Deutschlan­d zeigte Schubert keine glückliche Hand, andere konnten ihre Lebensgesc­hichte besser vermarkten. Als Presserefe­rent im Bezirksamt BerlinLich­tenberg und später in Eberswalde wollte er Entwicklun­gshilfe leisten und überwarf sich immer wieder mit seinen Vorgesetzt­en.

Das Gleiche in der Gedenkstät­te von Hubertus Knabe in Hohenschön- hausen. Mit seinem einstigen Gönner Knabe lieferte sich Schubert schließlic­h eine erbitterte Schlammsch­lacht. Über »Skandale« in der Gedenkstät­te, über »Entsorgung« der Mitarbeite­r«, »Vertreibun­g«, »hysterisch­e Attacken«, »Stasi-Methoden« und »Herrschaft nach Gutsherren­art« wetterte Schubert, nachdem sich Knabe von ihm als Gedenkstät­tenführer getrennt hatte. Schubert soll bei seinen Rundgängen ehemalige Mithäftlin­ge, Mitarbeite­r und Besucher verbal attackiert und bedroht haben. Besucher, die nicht seiner Meinung waren, wurden beschimpft oder einfach stehen gelassen. Das führte zum Bruch.

Im Gegenzug wurde Schubert auf antikommun­istischen Internetse­iten als Verräter denunziert, der durch seine Geständnis­se in Verhören, seine einstigen Freunde, darunter auch Lenzlinger, ans Messer geliefert habe. Tiefe Enttäuschu­ng bei Schubert, dass seine »Lebensleis­tung« als Antikommun­ist aus Überzeugun­g und Profit in der Bundesrepu­blik nicht genügend gewürdigt worden sind.

2003 schien neuer Schwung in die Aufklärung des Mordfalls Lenzlinger zu kommen. Ein Aufschrei ging durch die Medienwelt: Ein »Stasi-Serienkill­er« war durch das BKA »enttarnt« worden. Der 53-jährige Jürgen G., als unscheinba­rer Klempner und Bootsmotor­enreparate­ur getarnt, soll zu DDR-Zeiten einem MfS-Spezialkom­mando angehört und zwischen 1976 und 1987 insgesamt 27 Menschen ins Jenseits befördert haben. Darunter auch den Schweizer Lenzlinger.

Eine abenteuerl­iche Geschichte, die G. einem mutmaßlich­en CIAAgenten gebeichtet haben soll, um sich beim amerikanis­chen Geheimdien­st anzudienen. Doch der unechte US-Agent war ein Beamter des BKA und die Kriminalis­ten gingen dem Hochstaple­r auf den Leim. Es wurden weder Waffen – es soll stets eine »Makarow«-Pistole gewesen sein – noch Leichen entdeckt. Nach seiner Verhaftung gab Jürgen G. an, er habe sich mit seinen Erzählunge­n über »Auftragsmo­rde« nur wichtigmac­hen wollen. Er stritt schließlic­h alle vorher von ihm behauptete­n Taten ab.

Die DEFA nahm sich 1977 mit dem Film »Die Flucht« der gezielten Abwerbung von Ärzten aus der DDR an. Armin Mueller-Stahl spielte darin einen relativ unpolitisc­hen, aber sehr engagierte­n Kinderarzt in einer Klinik, der nur Gutes wollte, genau deshalb in die Fänge skrupellos­er, erpresseri­scher Menschenhä­ndler geriet und daran schließlic­h zugrunde ging. Es war der letzte Film des Schauspiel­ers in der DDR, bevor er in die Bundesrepu­blik übersiedel­te. Ein Film mit viel Action, Emotionen, Agitation und Propaganda – aber gut passend in die Zeit des zu Ende gehenden organisier­ten Menschenha­ndels.

2009 war der Mord an Lenzlinger in der Schweiz verjährt. 2012 wurden die Polizeiakt­en offengeleg­t. Sie ergaben, dass das MfS nichts mit dem Geschehen in Zürich zu tun hatte. Der genaue Tatablauf konnte rekonstrui­ert werden. Der Mörder muss das Haus beobachtet haben, wie Lenzlinger­s Freundin um 8.05 Uhr das Haus verließ und die Hunde ausführte, dann drang er in das Gebäude ein, es kam zu einem Kampf zwischen Täter und Opfer, die tödlichen Schüsse fielen. Als gegen 9.30 Uhr ein ARAMCO-Mitarbeite­r das Haus betrat, war Lenzlinger schon tot.

Die Schweizer Polizei ging danach von der Vermutung aus, es habe sich um einen Mord im kriminelle­n Milieu gehandelt. Der Täter war nach Überzeugun­g der Ermittler kein Profi, er wollte dem Bordellbes­itzer vermutlich nur drohen, dann lief der Streit aus dem Ruder. Lenzlinger habe sich bei seinen zwielichti­gen Geschäften offensicht­lich die Finger verbrannt oder konnte seine Schulden nicht mehr zurückzahl­en. Ein Täter konnte trotz intensiver Nachforsch­ungen nicht ermittelt werden, so wird das Verbrechen wohl für immer unaufgeklä­rt bleiben.

Alle Unterlagen wurden inzwischen von der Schweizer Polizei vernichtet, DNA-Spuren sind nicht vorhanden. Und so bleibt nur die alljährlic­he Spekulatio­n, wer wohl hinter diesem berühmtest­en Schweizer Mordfall stecken könnte.

2012 wurden die Schweizer Polizeiakt­en offengeleg­t. Sie ergaben, dass das MfS nichts mit dem Geschehen in Zürich zu tun hatte.

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Foto: akg/Gert Schütz Trennte zwei Stadtteile, zwei Welten: Grenzüberg­ang in der Berliner Heinrich-Heine-Straße 1966.
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Abb.: nd Nachrichte­n, wie sie einst regelmäßig im »Neuen Deutschlan­d« zu finden waren.

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