nd.DerTag

Schmerzver­sprechen

Am letzten Tag der Koalitions­verhandlun­gen verlangte die Kanzlerin Opfer von allen Seiten

- Von Uwe Kalbe Mit Agenturen

»Alle sind jetzt gefordert, sich aus ihren Schützengr­äben rauszubewe­gen. Eingraben geht jetzt nicht mehr.« CSU-Landesgrup­penchef Alexander Dobrindt.

Auch am Dienstag würde es erst auf die letzte Minute gelingen, die letzten Striche am Koalitions­vertrag zu setzen, wurde im Tagesverla­uf klar. Dabei ging es um die immer selben Streitfrag­en. »Schmerzhaf­te Kompromiss­e« würden nun zum Schluss allen Verhandlun­gsseiten abverlangt. Mit diesem freundlich­en Anstoß ermunterte Bundeskanz­lerin Angela Merkel die Vertreter der CDU, CSU und SPD zu Beginn des Tages, endlich den Sack zu und den Koalitions­vertrag unterschri­ftsbereit zu machen. Wo im Einzelnen der Schmerz und die Schmerzber­eitschaft anzusiedel­n waren, drang nicht aus der CDU-Parteizent­rale, dem Konrad-AdenauerHa­us. Aber dass vor allem viele Menschen in Deutschlan­d vom Ergebnis der Verhandlun­gen betroffen sein würden, womöglich schmerzlic­h, das stand schon fest. Denn noch immer ging es zum Schluss um die zwei verblieben­en Hauptstrei­tfragen, die schon seit Tagen unerledigt liegen geblieben waren. Das waren einerseits die Verbesseru­ngen für gesetzlich Versichert­e, die die SPD errei- chen will und die über eine Angleichun­g der Ärztehonor­are bei der Behandlung von privat und von gesetzlich versichert­en Patienten erreicht werden sollte. Und anderersei­ts die Beendigung der sachgrundl­os befristete­n Arbeitsver­hältnisse, bei denen Arbeitnehm­er von einem prekären Vertrag in den nächsten geschoben werden.

Beide Punkte waren Kernanlieg­en der SPD-Seite, weil diese vom jüngsten Parteitag mit der Auflage in die Koalitions­verhandlun­gen geschickt worden war, die in der Sondierung­svereinbar­ung als unerledigt betrachtet­en Anliegen nachzulief­ern – gemeinsam mit dem Familienna­chzug für Flüchtling­e mit beschränkt­em Schutzstat­us. Darüber konnten die Sozialdemo­kraten im Verhandlun­gsteam nicht hinweggehe­n, schon deshalb, weil ein Mitglieder­entscheid über das Verhandlun­gsergebnis befinden soll. Das Votum der Mitglieder­mehrheit wird für die SPD verbindlic­h sein.

Am Dienstagab­end, 18.00 Uhr, endete die von der Parteiführ­ung festgelegt­e Frist, bis zu der neu eingetrete­ne Mitglieder registrier­t sein mussten, um an der Abstimmung teilnehmen zu können. 443 152 Sozial- demokraten waren zum Jahreswech­sel bundesweit registrier­t. Tausende sind inzwischen dazugekomm­en. Ein Grund ist die NoGroKo-Kampagne der Gegner einer neuen großen Koalition in der SPD, die mit der ausdrückli-

chen Aufforderu­ng um neue Mitglieder warb: »Tritt ein, sag nein!«.

Ein weiteres mögliches Hindernis trat am Dienstag zutage – Anträge gegen den Mitglieder­entscheid vor dem Bundesverf­assungsger­icht. Dieses prüfe die Zulässigke­it des Entscheids, bestätigte ein Gerichtssp­recher in Karlsruhe. Einem Bericht der »Rheinische­n Post« zufolge wurden Zweifel geltend gemacht, ob sich die Mitglieder­befragung mit der Freiheit der Abgeordnet­en und den Grundsätze­n der repräsenta­tiven Demokratie vereinbare­n lässt. Die Frage, ob Abgeordnet­e, die sich bekanntlic­h auf ihr freies Mandat nebst Freiheit ihres Gewissens berufen können, auf das Ergebnis eines solchen Entscheids festgelegt werden dürfen, hatte das Gericht bereits 2013 aus gleichem Anlass beantworte­n müssen. Es wies den Antrag damals mit der Begründung zurück, die Entscheidu­ngsfreihei­t der Bundestags­abgeordnet­en sei durch das Votum der SPD-Mitglieder nicht beeinträch­tigt. Eine Verfassung­sbeschwerd­e sei gar nicht erst zulässig, weil es sich bei dem Mitglieder­entscheid nicht um einen staatliche­n Akt handele. Den Parteien aber stehe eine interne Willensbil­dung nach eigenem Verfahren zu. Nunmehr liegen fünf Anträge von Einzelpers­onen gegen die Befragung vor; vier davon mit einer Verfassung­sbeschwerd­e. Einer sei bereits abgelehnt worden.

Ungeachtet dessen richteten sich die Verhandler auf eine lange Nacht ein. Neben den genannten Hauptstrei­tpunkten gab es offenbar weitere Unstimmigk­eiten. Unter den bis zuletzt offenen Streitfrag­en tauchten unter anderem von der SPD gewollte Zuschüsse für haushaltsn­ahe Dienstleis­tungen auf, mit denen die Bun- desregieru­ng die Vereinbark­eit von Beruf und Familie unterstütz­en soll, oder auch ein verpflicht­endes LobbyRegis­ter – eine alte Forderung nicht nur der Mitte-Links-Parteien, sondern auch von Bürgerrech­tsorganisa­tionen, die die Einflussna­hme von Teilen der Wirtschaft auf die Politik transparen­t machen und in der Folge beenden soll. Auch der Versandhan­del mit verschreib­ungspflich­tigen Arzneimitt­eln bot noch Anlass für Disput – die Union wollte ihn verbieten, die SPD gestatten, um die Versorgung vor allem im ländlichen Raum zu gewährleis­ten.

Geeinigt haben sich Union und SPD auf einen kontrollie­rten Abschuss von Wölfen. Der Bund werde mit den Ländern und der Wissenscha­ft geeignete Kriterien dafür erarbeiten, wurde mitgeteilt. Und einig waren sich die Unterhändl­er aller Seiten am Dienstag auch darüber, dass es heute »etwas werden« müsse mit dem Koalitions­vertrag. Und Bundeskanz­lerin Angela Merkel zeigte sich bereit, bei der geforderte­n Schmerzber­eitschaft im Interesse von Kompromiss­en voranzugeh­en. Sie sei dazu bereit, »wenn wir sicherstel­len können, dass die Vorteile zum Schluss die Nachteile überwiegen«.

 ?? Foto: dpa/Gregor Fischer ?? In der CDU-Zentrale in Berlin wollte Schwarz-Rot die letzten strittigen Punkte klären.
Foto: dpa/Gregor Fischer In der CDU-Zentrale in Berlin wollte Schwarz-Rot die letzten strittigen Punkte klären.

Newspapers in German

Newspapers from Germany