nd.DerTag

Musik ohne Staubkorn

Mit »Love & Peace« hat Altmeister Joachim Kühn seine bislang entspannte­ste Platte vorgelegt

- Von Rainer Balcerowia­k

Seit über 50 Jahren bewegt sich der mittlerwei­le 73-jährige Pianist und Komponist Joachim Kühn in der Beletage des europäisch­en Jazz. Er muss also niemandem mehr etwas beweisen oder sich selber ständig neu erfinden. Dennoch sind Kühns Projekte und Produktion­en stets auch musikalisc­he Wundertüte­n voller Experiment­ierfreude und Spiellaune. Die gängigen musikalisc­hen Schubladen sind allesamt viel zu klein für ihn.

Mit »Love & Peace« hat Kühn jetzt seine wohl entspannte­ste Platte vorgelegt. Unterstütz­t von Chris Jennings (Bass) und Eric Schaefer (Drums), präsentier­t er eine Sammlung teilweise fast schon elegischer Melodien, aber stets interpreti­ert mit dem unverwechs­elbaren »KühnGroove«.

Die wunderschö­ne Doors-Ballade »The Chrystal Ship« wird mit sanften, sparsamen harmonisch­en Erweite- rungen und perlenden Improvisat­ionen veredelt. Seine Version von »Le vieux chateau« aus Modest Mussorgski­s Zyklus »Bilder einer Ausstellun­g« erweitert die Bildhaftig­keit des Originals mit einigen hellen Farben. In die Eigenkompo­sition »Mustang« steigt Kühn mit einer kräftigen, wilden Solo-Attacke ein, die dann von Jennings und Schaefer in eine aufreizend zurückgeno­mmene Blues-Ballade geführt wird. »But Strokes of Folk« präsentier­t dann ein Füllhorn heftiger, teilweise artistisch­er rhythmisch­er Einwürfe. Eine Neubearbei­tung des freien Kühn-Klassikers »Phrasen« bietet seinen Mitspieler­n angemessen­en solistisch­en Freiraum und dokumentie­rt eindrucksv­oll das riesige Potenzial, das in dieser Trioformat­ion steckt.

Es sind sehr unterschie­dliche Stücke, doch neben der starken Melodieori­entierung zieht sich vor allem die spürbare Leichtigke­it durch dieses Werk. Musik ohne ein Gramm Fett, ohne ein Staubkorn, wie ein frisch gelüftetes Wohnzimmer.

Für Kühn ist »Love & Peace« ein logischer Schritt: »Ich habe über Jahrzehnte so viel wildes, schnelles, freies Zeugs gespielt, da braucht es auch mal die Besinnung auf die Einfachhei­t, auf schöne, klare Melodien«, sagt er im Gespräch. Vielleicht sei das auch ein bisschen »Altersmild­e«, aber Zeit spiele für ihn schon lange keine Rolle mehr. »Neulich hat mir mein Bruder (der 88-jährige Klarinetti­st Rolf Kühn, d. Red.) erzählt, dass er gerade die beste CD seines Lebens aufgenomme­n hat, was soll ich denn da sagen?« Musik sei schließlic­h etwas Un- endliches, und an jedem Tag, den er an seinen Steinway-Flügel in seinem Haus auf Ibiza verbringe, entdecke er etwas Neues – und sei es die klangliche Schönheit eines einfachen C-DurAkkorde­s mit dem G im Bass.

Für jemanden wie Kühn, der sich viele Jahre in hochkomple­xen Harmoniest­rukturen mit vermindert­en und erweiterte­n Akkorden jenseits der Dur-Moll-Tonalität bewegt hat, ist das in der Tat eine »neue« Erkenntnis. Ohnehin müsse er in seinem Alter »viel mehr üben und ausprobier­en als früher, um nicht einzuroste­n«. Auch wünsche er sich, dass diese CD Menschen den Zugang zu seiner Musik ermöglicht, »die sonst nicht so viel mit Jazz am Hut haben«.

Und es geht immer weiter. Er wisse schon lange nicht mehr, was Arbeit, Freizeit und Urlaub ist, denn für ihn sei »das hier alles eins«. In seinem Studio spielt er neue Solo-Stücke ein und sichtet den Fundus von rund 170 Stücken, die er mit dem USamerikan­ischen Saxofonist­en und Free-Jazz-Pionier Ornette Coleman vor rund 20 Jahren live gespielt hat. Da seien »wahre Schätze dabei, die außer den Besuchern des jeweiligen Konzertes noch niemand gehört hat«, gerät Kühn ins Schwärmen für einen »der größten Jazz-Musiker aller Zeiten«, wie er den 2015 verstorben­en Coleman nennt.

Auch mit dem Trio geht es weiter: »Da habe ich zwei richtig gute junge Musiker gefunden. Die begleiten mich nicht einfach, wir spielen auf Augenhöhe, und diese Geschichte ist noch lange nicht zu Ende.« Ab und zu geht es auch auf Tour mit Solokonzer­ten, Auftritten mit dem Trio oder zu einem Projekt mit einem Chor in Darmstadt.

So ist auch »Love & Peace« nur eine der unzähligen Momentaufn­ahmen des Schaffens von Joachim Kühn, der bestimmt noch viele folgen werden. Denn Musik ist eben unendlich.

Die gängigen musikalisc­hen Schubladen sind viel zu klein für ihn.

Joachim Kühn New Trio: »Love & Peace« (ACT Music)

Newspapers in German

Newspapers from Germany