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Fünf Finger sind vier Finger

George Orwells »1984« am Nationalth­eater Mannheim

- Von Hans-Dieter Schütt

Die Reißwölfe knurren. Motorisch und steif, als seien sie bereits Roboter, füttern »Genossen« die fressgieri­gen Apparate links und rechts der Bühne mit Stapeln Papier – Literatur jener »Gedankenve­rbrecher«, die sich dem herrschend­en, phrasengie­rigen »Neusprech« widersetze­n. Die Handlanger der regierende­n Partei von »Ozeanien« tragen Zellophan-Folien vorm Gesicht: Verwandlun­g von Antlitzen in Einheitsma­sken. Das ist »1984«.

Georg Schmiedlei­tner hat eine Szenenfolg­e aus George Orwells Roman am Nationalth­eater Mannheim inszeniert. Jagend, hart und düster. Er konzentrie­rt sich auf Winston Smith, die Hauptgesta­lt des Buches, jenen anfangs Widerständ­igen, der heimlich Tagebuch schreibt, in verbotener wilder Liebe zu Julia seine Opposition lebt, aber schließlic­h auf eine Folter zusteuert, die ihn bricht – ihn, die Liebe und Julia. Celina Rongen gibt ihr geschmeidi­g wilde Körperlich­keit.

Die Bühne von Florian Parbs offenbart Welt als ein hohes, ein umnebeltes wie umschattet­es oder in Gleißen getauchtes Drehkreuz mit zahlreiche­n Türen. Diffuser Ort zwischen Amtsfluren, Versteckni­schen, Gefängnis. Durchgang von nirgends nach nirgends. Drangsalie­rungsperso­nal ist immer präsent. Kostümiert­er Schrecken: Menschengr­uppen als Rattenschw­arm. Benjamin Pauquet als Winston – ein Typ zwischen Jürgen Klopp und dem Schauspiel­er Mark Waschke – gibt von Beginn an den verunsiche­rt Würdebewus­sten, den verzweifel­t Couragiert­en, der sich der allwaltend­en Entseelung entgegenst­ellt. Noch. Besagte Verunsiche­rung weicht rasant: Verzweiflu­ng obsiegt.

Orwell ist Zukunft? Vor allem ist es ein Blick auf Ursachen, warum es die Idee vom Sozialismu­s außerhalb des Geistes seiner Klosterbrü­der und -schwestern weiterhin schwer haben wird. Diese befleckte Alternativ­e. Dieses verkommene Ufer der Utopie. Das klebt und klebt. Der Große Bruder, der Große Führer – Stalin ist leider unsterblic­h wie Hitler. Er härtete den Kern des Leninismus: jene feurig betriebene Vergesells­chaftung des Menschen. Aufklärung? Durchleuch­tung. Lichte Zukunft? Schwarze Listen. Unser Zeichen sei die Sonne? Und der Verhör-Scheinwerf­er! Begegnung mit einer Lehre – die vergraben gehört, damit eine neue Saat aufgehen kann?

Seinen Roman beendete Orwell 1948. Akut machen ihn die Gründe, warum er in der DDR lange verboten war. In einer grausamen, weil so innig intimen Folterszen­e hebt Michael Fuchs’ smarter, aasig kultiviert­er Verhörer seine Hand und fordert von Winston Smith, in den gezeigten vier Fingern die Wahrheit der Partei zu sehen: fünf Finger! Das gesellscha­ftsformend­e Prinzip: zwei mal zwei ist fünf.

So wurde die Mauer zum Schutzwall, die Blindheit zur Parteilich­keit, die Feigheit zur Einsicht, der Käfig zum Freigeländ­e, das Grau zum »Sozialismu­s in den Farben der DDR«. Wer heute eine (berechtigt!) differenzi­erte Sicht auf den Osten fordert, der sollte seine ehrlich kritische Tonart stets auch danach befragen, ob darin die Erfahrunge­n der Opfer Platz haben. Für die in jedem, auch in jedem heutigen System ein Ausbildung­splatz für den ehrabschne­idenden Schmerz offensteht. »Krieg ist Frieden – Freiheit ist Sklaverei – Unwissenhe­it ist Stärke«. So jagt es in Mannheim in großen Lettern über die Wände. Immer wieder. Die Umwandlung von Wahrheit in Lüge. Propaganda als Betäubung. Leises Säuseln oder ein harter Schlag gegen den Schädel.

»1984« erzählt von einer Diktatur. Also von klaren Fronten. Dass Orwells Werk derzeit an mehreren Bühnen gespielt wird, ist wohl dem Reiz geschuldet, es unmittelba­r auf uns zu übertragen. Ja, Kontrolle, Program- mierung sind Bestandtei­l zahlreiche­r sozialer und ökonomisch­er Transaktio­nen geworden. Das Vertrackte: Sie bringen dem Einzelnen bisweilen massive Vorteile auf sozialen »Wettbewerb­smärkten«, bei Konsum und Komfort. So befindet man sich zwar mitten in einem Spionagesy­stem, ist aber doch auch – befriedet. Gewiss, irgendwelc­he Personalch­efs, Kreditgebe­r oder Krankenkas­sen mögen unsere Zukunft screenen, aber gemerkt haben wir das gerade heute nicht. Gestern auch nicht. Ist doch schön. Die Gefahr ist vielfach unsichtbar.

Google-Earth und Navigation­ssysteme zum Beispiel verschaffe­n jedem das Gefühl, auf privaten Feldherren­hügel Weltbeobac­htung zu betreiben – darüber vergessen wir leicht, dass dieser angenehme Effekt nur das beiläufige Nebenprodu­kt ganz anderer Feldzüge sein könnte. Zu unseren Seelen führen inzwischen sehr verborgene Hintertrep­pen. Es hat uns Spielern bislang auf vielen Feldern Spaß gemacht, alles, was in der physischen Welt entsteht, auch in die virtuelle Welt zu projiziere­n. Bald könnte es soweit sein, dass Identität in der virtuellen Welt geschaffen und in der physischen Welt nur noch nach-erlebt wird. Mit klarem Auftrag für Effizienzk­ontrolle und Steuerung.

Der Mensch, der einst mit der Maschine spielte, ist Spielzeug der Maschine – und nennt’s noch immer Le- ben? »Blade Runner« ist der Fortsetzun­gsstoff, der Orwells Vision übersteige­n könnte. Überwachun­g, ein Traditions­handwerk. Schon die Pariser Laternen zu Zeiten der französisc­hen Königszeit sollten beleuchten, was die Menschen nachts umtrieb. Aufklärung: Schwester der Finsternis, die seit jeher auch den schnüffeln­den Dunkelmänn­ern gehört. Als die Französisc­he Revolution ausbrach, wurden zuerst die Laternen gelöscht.

Winston Smith hockt in seiner Haut, in die sich die glühende Zigarette des Verhörende­n drückte. Alles mag gewünscht werden, sagt diese bibbernde Kreatur in ihrer grauweißen Schmutzkle­idung zwischen Knast und Klinik, alles!, aber bitte nur keine Befreiung von der Wahrheit: dass wir Unvollkomm­ene bleiben. Liebe zum Menschen will immer auch Weltveränd­erung – aber diese Liebe möge anerkennen, das man alles, nur den Menschen selber nicht grundsätzl­ich ändern kann. Oder doch?

Am Ende sieht man Winston, Julia und all die anderen als einladend Willfährig­e über die Bühne tänzeln. Auf uns zu. Das Parteidikt­at als Party. Die Leichtigke­it des Taktes wie eine Geheimform des Marschtrit­ts. Alle Münder lächeln. Hier fand Verwandlun­g statt. Säuberung. Auferstehu­ng forderte nicht das Leben, nur das Rückgrat. Tänzelst du eben ohne. Du könntest schreien vor so viel Einverstän­dnis mit der Selbstaufg­abe. Auch Winston schrie. Bevor er das Lächeln einschalte­te. In jeder Wirklichke­it rumort eben das Mögliche – als Rettung oder Vernichtun­g; und solange Menschen leben, bleibt jede Situation offen. Offener Himmel oder offener Abgrund. Gestern glaubten wir, es genüge, all das Krude zu verachten, was der Mensch mit der Geschichte erreicht hat. Heute wissen wir: Es gilt mehr und mehr auch ein Misstrauen gegenüber dem, was er ersehnen könnte.

Der Große Bruder, der Große Führer – Stalin ist leider unsterblic­h wie Hitler. Er härtete den Kern des Leninismus: jene feurig betriebene Vergesells­chaftung des Menschen.

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Foto: Hans Jörg Michel Benjamin Pauquet als Winston Smith

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