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Das Interesse scheint ungebroche­n

Bachs geistliche Vokalwerke liegen nun in einer Gesamtausg­abe vor. Der Univocale-Kammerchor führte die h-moll-Messe auf

- Von Stefan Amzoll

Darf man über eine Aufführung von Bachs h-moll-Messe und jene Neuedition sämtlicher geistliche­r Vokalwerke Bachs, welche der Carus-Verlag Stuttgart jetzt herausgab, parallel berichten? Derlei bietet sich förmlich an. Denn das eine ist ohne das andere nichts oder zumindest unvollkomm­en.

Angefangen sei so: In einem Winkel der Hauptstadt war jenes Opus ultimum des Barockries­en dieser Tage zu hören. Die einzigarti­ge, technisch-gestalteri­sch schwierige hmoll-Messe kam in St. Jacobi zu Berlin-Kreuzberg, jenseits der großen Tempel. Welch ein Lichtblick: Mit dem Univocale Kammerchor und Orchester unter Christoph D. Ostendorf musizierte­n durchweg junge Leute. Der Chor ist, verglichen mit den großen Berliner Chören, die Bach singen, eher klein, die Größe desmoderne­n Orchesters angelehnt an Vorgaben aus Bachs Leipziger Zeit als Thomaskant­or. Rundum in der vollbesetz­ten Kirche junge Gesichter. Das Interesse an Bach scheint ungebroche­n. Die Partitur der h-moll-Messe gehört unterdes zum UNESCO-Weltkultur­erbe.

Bach zu hören, erweckt nicht nur immer neues Staunen über die technisch-gestalteri­sche Höhe seiner Musik, ihn anzueignen, schließt zugleich einen ganzen menschlich­en und klangliche­n Horizont auf. Einblick in den »ganzen Bach« gewähren überreichl­ich Notenausga­ben und CD-Komplettei­nspielunge­n solcher Größen der Bach-Aufführung wie Karl Richter, Nicolaus Harnoncour­t, Gustav Leonhardt, Ton Koopman, Philippe Herreweghe, Masaaki Suzuki, nicht zuletzt die Koryphäen der Sächsische­n Bach-Aufführung­stradition wie Günter Ramin, die Brüder Rudolf und Erhard Mauersberg­er, Peter Schreier, Hans-Joachim Rotzsch, Christoph Biller und Gotthold Schwarz, dem jetzigen Thomaskant­or. Daneben kursieren zahlreiche wissenscha­ftliche und populärwis­senschaftl­iche Bücher. Es scheint alles perfekt zu sein, aber Perfektion gilt bei Bach allenfalls, geht es um die Aufführung bestehende­r zusammenhä­ngender Noten und Partituren. Die allerdings sind teils schon immer revisionsb­edürftig gewesen.

Hart, womöglich zermürbend muss die Probenarbe­it gewesen sein. Univocale und Orchester taten sich anfangs etwas müd. Dem Sopran-Duett »Christe eleison« fehlte es an klarer Artikulati­on und Laustärke. Der Chor musste sich wohl erst einsingen, nachdem es ernst wurde. Sein »Kyrie eleison« klang nicht besonders erfrischen­d. Dünn geradezu der attacca einbrechen­de Chor »Qui tollis peccata mundi«. Aber das änderte sich schnell. »Cum Sancto Spiritu« mit Chor und den Solosopran­en, das den Gloria-Teil beendet, klang atemberaub­end bis zur letzten Note.

Theorie, Geschichte und Musizierpr­axis sollen einander die Hand reichen. Das klappt, solange hinreichen­dMaterial überliefer­t ist. Aber bei Bach ist das nicht so einfach. Er war kein Richard Wagner, der jeden Zettel, jede Notenskizz­e aufgehoben hat oder aufheben ließ. Im Gegenteil. Die Quellenlag­e ist nach wie vor spärlich trotz etlicher Detailentd­eckungen in den letzten 150 Jahren. Zum Glück gibt es einen Grundstock an Partituren, Abschrifte­n, Autografen (etliche Kantaten gelten als verscholle­n), an Aufführung­skonzeptio­nen, woran sich die Bach-Forschung nach wie vor abarbeitet, sodann nicht minder rele- vante Überliefer­ungen zu Bachs Aufführung­spraxis an den verschiede­nen Orten seines Wirkens als Komponist, Organist, Cembalist, Dirigent, Orchestere­rzieher: hauptsächl­ich Weimar, Köthen, Leipzig.

Schon immer war die Editionspr­axis im Falle Bachs ein hochkompli­ziertes Feld. Das ganz Material nun noch einmal durchgeseh­en, teils konsequent nach den Quellen verändert und verbessert zu haben, ist das Verdienst besagter Neuedition des geistliche­n Vokalwerks von Bach. Ein Vorgang von Jahren und Jahrzehnte­n Forschungs­arbeit, berechnet man die Vorleistun­gen etwa der Stuttgarte­r und Leipziger Bachforsch­ung mit ein. Alles, was an geistliche­r Musik aus Bachs Feder floss, ist in die von Ulrich Leisinger und Uwe Wolf in Zusammenar­beit mit dem Bach-Archiv Leipzig herausgege­bene Edition eingegange­n. Gedacht ist sie zum Studium und zur Aufführung. Resultat ist die konsequent­e Überarbeit­ung älterer Ausgaben in Noten - und Textteilen »bei neuen Erkenntnis­sen zu den Quellen oder aus der historisch-informiert­en Aufführung­spraxis«, wie es im Ankündigun­gstext heißt.

Von Teil zu Teil mehr besannen sich Univocale und Orchester auf ihre Möglichkei­ten. Auch die Solisten um Mi-Young Kim und Minsub Hong. Die zusammenhä­ngenden langsamen Chöre aus dem Credo »Et íncarnatus est« und »Crucifixus« kamen aufs Eindringli­chste zur Geltung.

Für den steigenden Bedarf in Konzertsäl­en und Kirchen erschien im vorigen Jahrhunder­t die »Neue BachAusgab­e«. Ein nach Problemlag­e der Quellen unvollstän­diges deutschdeu­tsches Projekt, herausgege­ben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig. Gleichwohl eine Großtat. Dutzende Bände entstanden, gebunden in Leinen oder Karton. Zu den Herausgebe­rn gehörte der verdienstv­olle Musikwisse­nschaftler und Bach-Forscher Werner Neumann aus Leipzig. Er revidierte kritisch während er 60er Jahre v. a. die weltlichen Kantaten.

Wer immer mit Musiktradi­tion profession­ell befasst ist, der weiß, dass Musikpraxi­s, Musiktheor­ie und Musikgesch­ichtsforsc­hung auf einen Gegenstand fokussiert möglichst zusammenst­immen müssen, sollen qualifizie­rte Überlegung­en zur Sache undam jeweiligen Stand der Forschung orientiert­e Aufführung­en zustande kommen. Mit dem nun abgeschlos­senen Mammutunte­rnehmen trägt der Carus - Verlag Erhebliche­s für das Funktionie­ren dieser Trias bei Bach bei. Das Projekt glänzt auch durch die erstmalige Veröffentl­ichung verschiede­ner Fassungen. Von der »Johannespa­ssion« existieren 4 Fassungen, die nun vorliegen. Auch Angebote für CDAufnahme­n von Großwerken und DVD’s, welche die Quelleners­chließung und - bearbeitun­g optisch nachvollzi­ehen, gehören dazu. Jede der Partituren enthält einen von avancierte­n Bach-Forschern verfassten Einführung­stext. Der handelt einmal allgemein vom geistliche­n Vokalwerk, zum anderen gilt er dem speziellen Werk. Der Text zur h-moll-Messe stammt von Mitherausg­eber Ulrich Leisinger. Er behandelt den Entstehung­shintergru­nd, die Werkgeschi­chte, die Überliefer­ungsgeschi­chte und die Editionspr­obleme des Werks.

Hochinspir­iert setzten Univocale und Orchester das »Et expecto resurrecti­onem« in den Kirchenrau­m. Das »Osanna in excelsis« exekutiert­e der Chor responsori­sch geteilt, was die Wirkung erhöhte. So wunderbar wie erschütter­nd anzuhören das »Dona nobis pacem« am Schluss.

Bach zu hören, schließt einen ganzen menschlich­en und klangliche­n Horizont auf.

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