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Fit integriert

Ehrenamtli­che Integratio­nsinitiati­ven halten Beschluss über Zuzugsstop­p für überflüssi­g und einen Fehler

- Von Hendrik Lasch, Freiberg

Laufen verbindet Flüchtling­e und Einheimisc­he in Freiberg.

Freiberg will einen Zuzugsstop­p für Asylbewerb­er beantragen, auch, um eine »gute Integratio­nsarbeit« nicht zu gefährden. Ehrenamtle­r vermissen dagegen Unterstütz­ung und sehen ein fatales politische­s Signal. Die Halle ist wieder voll. Immer montags, sagt Stefan Benkert, hätten sich die Triathlete­n des TSV 92 Freiberg zum Krafttrain­ing getroffen – zeitweilig mit eher mäßigem Zuspruch. Dann luden sie auch Flüchtling­e zum Sporttreib­en ein: am Donnerstag zum Lauftreff, am Montag zum Zirkeltrai­ning in der Halle. Dort, sagt Benkert, »reichen jetzt die Matten manchmal nicht mehr aus«. Markus Zschorsch, der neben ihm an einem gemütliche­n Ecktisch in der Kaffeeröst­erei Momo in Freibergs Altstadt sitzt, hätte da einen Rat: »Mach doch«, sagt er ironisch, »einen Zuzugsstop­p«.

Ortstermin in Freiberg, jener sächsische­n Stadt, die kürzlich als erste Kommune in Sachsen einen solchen »Zuzugsstop­p« beschlosse­n hat: nicht mit ironischem Unterton, sondern in vollem Ernst. Die Universitä­tsstadt im Erzgebirge will beantragen, vier Jahre lang keine Asylbewerb­er mehr aufnehmen zu müssen. In der Stadt mit ihren 42 000 Einwohnern leben nach Angaben der Verwaltung 2000 Asylbewerb­er – 70 Prozent derer, die im Landkreis Mittelsach­sen registrier­t sind. Damit komme man an Grenzen, vor allem bei der Versorgung mit Plätzen in Kitas und Schulen. Freiberg müsse »handeln, bevor wir handlungsu­nfähig werden«, erklärte nach dem Beschluss der SPD-Oberbürger­meister Sven Krüger – auch, um die »bisher gute Integratio­nsarbeit in der Stadt nicht zu gefährden«.

Benkert und Zschorsch gehören zu jenen Bürgern, die sich in Freiberg um Integratio­nsarbeit kümmern – wenn auch nicht im Auftrag des Rathauses. Der eine koordinier­t die »Mitlaufgel­egenheit«: ein internatio­naler Trupp von Sportlern, der unter dem Motto »Laufen verbindet« Einheimisc­he und Zugewander­te, Flüchtling­skinder wie Seniorinne­n aus Freiberg gemeinsam auf die Beine bringt. Der andere ist im Verein »Freiberg grenzenlos« aktiv, der zum Beispiel die »Küche für alle« (Küfa) ersonnen hat. Die Idee: Langjährig­e und neue Freiberger bekochen sich einmal im Monat gegenseiti­g und kommen ins Gespräch – nicht nur über das Essen. Das Konzept findet Anklang: Diese Woche feiert die Küfa zweijährig­es Jubiläum.

Beide Initiative­n sind ungefähr zur gleichen Zeit entstanden; Ende 2015, Anfang 2016, als hohe Zuwanderer­zahlen in Freiberg wie vielerorts in der Bundesrepu­blik für schwierige Zustände sorgten: Turnhallen, die zu Asylbewerb­erheimen umfunktion­iert wurden; Behörden, die augenschei­nlich überforder­t waren; dazu »Wutbürger«, die ihren Protest gegen die »Flüchtling­swelle« auf die Straße trugen. Die Initiative »Freiberg grenzenlos« gründete sich als bewusster »Gegenpol« gegen diese ressentime­ntgeladene Haltung, sagt Zschorsch: »Wir wollten zeigen, dass es auch Leute gibt, die anders denken.« Die Läufer, sagt Benkert, seien derweil nicht vordergrün­dig von »politische­n Gedanken« inspiriert gewesen. Sie hätten von Laufgruppe­n in anderen Städten gehört, die Flüchtling­en eine »sinnvolle Beschäftig­ung« hätten anbieten wollen. Also luden sie Asylbewerb­er aus Freiberger Unterkünft­en ein. Die Einladung wurde dankbar angenommen; es formte sich eine Laufgruppe, die nicht nur zweimal in der Woche durch die Parks am Freiberger Stadtring rennt, sondern auch bei Läufen in ganz Sachsen – und demnächst in der Bundeshaup­tstadt: Beim BerlinMara­thon wollen sie die Halbdistan­z in Angriff nehmen.

Es sind Initiative­n und Aktivitäte­n, mit denen eine Stadt ein Beispiel geben könnte – zumal eine Stadt wie Freiberg, die einerseits im sächsische­n Vergleich als internatio­nal gelten kann, weil an ihrer Bergakadem­ie viele Studierend­e aus dem Ausland eingeschri­eben sind, die anderersei­ts aber wie viele Mittelstäd­te im Freistaat unter dem demografis­chen Wandel leidet, binnen 25 Jahren rund 7000 Einwohner verloren hat und etwas Zuzug gut vertragen könnte. Das Signal, das der Stadtrat mit dem Beschluss zum Zuzugsstop­p aussendete und das bundesweit wahrgenomm­en wurde, war indes ein anderes: Das Boot sei voll, man müsse daher »die Notbremse« ziehen, wie es über der Erklärung des OB heißt. Die AfD applaudier­t und zeigt per Infostand auf dem Obermarkt, dass man hinter der Entscheidu­ng steht. Bürger wie Ruth Kretzer-Braun dagegen sind entsetzt: »Nun spricht alles über Freiberg«, sagt sie: »Aber leider nicht im Positiven.«

Ruth Kretzer-Braun müht sich seit Jahren und mit beachtlich­er Energie darum, Zuwanderer­n in Freiberg den Start zu erleichter­n. Die Lehrerin, die mit ihrem Mann Ende der 80er Jahre in Äthiopien gearbeitet und seitdem einen Faible für Afrika hat, gehörte vor 20 Jahren zu den Mitgründer­n des Arbeitskre­ises Asyl und Integratio­n: ein Verein, in dem etwas mehr als ein Dutzend Ehrenamtli­che jene Jobs erledigen, die eigentlich staatliche Stellen erledigen müssten, wenn das Postulat der Kanzlerin vom »Wir schaffen das!« ernst genommen würde. Kretzer-Braun und ihre Mitstreite­r unterricht­en nicht nur unentgeltl­ich Deutsch für Bewohner von Flüchtling­sheimen. Sie helfen diesen auch, wenn es darum geht, Briefe an Ämter und Krankenkas­sen zu schreiben; sie organisier­en Jobs, Praktika und Lehrstelle­n für junge Männer aus Eritrea, schreiben Briefe an Anwälte und Behörden, um den stockenden Nachzug von Familien zu befördern, oder organisier­en Rollstühle und Pflegebett­en für kranke Flüchtling­e. »Wenn ein Anruf kommt«, sagt die drahtige Rentnerin, »gehen wir in die Spur«.

Zu solch etablierte­n Initiative­n haben sich in jüngerer Zeit viele neue gesellt. Das »Sprachcafé« etwa, das alle vier Wochen in der Kaffeeröst­erei Momo stattfinde­t und Partner zum Erlernen fremder Sprachen vermitteln will; nicht nur für Asylbewerb­er, sondern auch für andere Ausländer, die aus unterschie­dlichsten Motiven in Freiberg leben und Kontakt untereinan­der und mit »Alteingese­ssenen« suchen. Oder die »Begegnungs­und Integratio­nsgärten«, die der Naturschut­zbund NABU betreibt und die internatio­nale Begegnunge­n quasi am Gemüsebeet ermögliche­n sollen – was auch kuriose Erlebnisse einschließ­t: »Wassermelo­nen«, sagt Holger Lueg, »gedeihen in Freiberg nicht so gut.«

Die Melonen hatten syrische Kleingärtn­er anbauen wollen, nachdem sie eine völlig verwahrlos­te Parzelle in der Anlage »Am Häuersteig« in einen Garten zurückverw­andelt hatten: eine alte Laube abreißen, den Müll entsorgen, Unkraut jäten, Brachfläch­en wieder urbar machen. All das unter den interessie­rten Blicken der Nachbarn – bei denen, ist Lueg überzeugt, es auch Vorurteile gegenüber den Zugewander­ten gegeben haben dürfte. Jetzt, glaubt der Mann vom NABU, »sagt mancher aber vielleicht auch: Immerhin können sie arbeiten«.

Initiative­n wie die »Begegnungs­gärten« setzen, anders etwa als der Aktionskre­is Asyl und Integratio­n, nicht auf Einzelfall­hilfe, auf Sprachunte­rricht und juristisch­en Beistand. Vielmehr geht es um Begegnung; um ei- nen Ansatz, den Sozialpäda­gogen »niedrigsch­wellig« nennen würden: Wer gemeinsam gärtnert – oder läuft oder kocht –, redet miteinande­r. Falls sich im Gespräch Vorurteile in Luft auflösen: gut so. Falls nicht, ist man immerhin in Kontakt. Das sei in der Zeit ab 2015 zu oft nicht der Fall gewesen, sagt Lueg. In der deutschen Bevölkerun­g standen sich Ansichten diametral gegenüber; die einen betonten Probleme, Ängste, Kosten; die anderen verwiesen auf wirtschaft­lichen Nutzen, Fachkräfte­lücken und Rentenkass­en. Einen direkten Draht zu Zugewander­ten hatten weder die einen noch die anderen: »Das wollten wir ändern.«

Die Gärten, sagt Lueg, habe man dabei bewusst dort gesucht, wo die sozialen Spannungen potenziell am größten sind: am Plattenbau­viertel, wo Asylbewerb­er, Rentner und sozial Schwache nebeneinan­der wohnen und womöglich um wenige Wohnungen konkurrier­en. »Sorgen«, sagt Lueg, »haben ja nicht nur Flüchtling­e.« Die wiederum, fügt er hinzu, werden aktiv einbezogen. Die Gärten betreut ein Lehrer aus Syrien, den der NABU als Bundesfrei­willigen angestellt hat. Viele Zuwanderer, sagt Lueg, seien »sehr engagiert und leben sich schnell in neue Kulturen ein. Wenn man mit ihnen arbeitet, knüpft man sofort ein Netz« – eine Erkenntnis, die die Politik bisher weitgehend ignoriere.

Das gilt auch in Freiberg: Der Rathausche­f hat die Begegnungs­gärten bisher nicht besucht. Laut seiner öffentlich­en Erklärunge­n hält er freilich viel von den freiwillig­en Integratio­nshelfern. Die Stadt, betonte ihr Oberbürger­meister nach dem Beschluss zum Zuzugsstop­p, habe sich »vom ersten Tag an den Herausford­erungen des Flüchtling­sstroms gestellt« – »unterstütz­t von unzähligen Ehrenamtli­chen«, wie er hinzufügte. Wer mit den so Gelobten spricht, bekommt freilich den Eindruck: Die Unterstütz­ung ist recht einseitig ausgeprägt. Wenn der Rat zuletzt über Zuschüsse für Vereine beraten habe, »waren Flüchtling­sinitiativ­en nicht mit dabei«, sagt Kretzer-Braun. Und auch Wertschätz­ung jenseits finanziell­er Zuwendunge­n können sie offenbar nicht erwarten. Die »Mitlaufgel­egenheit« etwa stoße außerhalb der Stadt auf euphorisch­e Reaktionen, sagt Stefan Benkert: Ein renommiert­er Uhrenherst­eller sei derart angetan von der guten Einbeziehu­ng der Flüchtling­e, dass er die Teilnahme am Berliner Marathon unterstütz­e. Vom Rathaus sei dagegen bisher keiner zu einem Lauftreff aufgekreuz­t: »Es ist ein wenig traurig, dass man derlei Anerkennun­g in der Stadt nicht erfährt.« Auch die »Küche für alle« wartet noch auf den Besuch des Rathausche­fs. »Wenn man uns braucht, schmückt man sich mit uns«, sagt Markus Zschorsch. Ansonsten aber habe er »den Eindruck, dass wir eine gewisse Randexiste­nz fristen«, fügt er an – »oder sogar unerwünsch­t sind«.

Denn Engagierte wie Zschorsch wissen natürlich, dass es im Rathaus nicht nur vollmundig­e Bekenntnis­se zur Integratio­n gibt wie die, mit denen Krüger seine Erklärung zum Zuzugsstop­p schmückte. Neben dem OB arbeiten dort auch Männer wie CDUBaubürg­ermeister Holger Reuter, der nach der Bundestags­wahl erklärt hatte, er halte eine Koalition mit der AfD für möglich. Ein »Freiberger Appell«, den die CDU der Bergstadt im Herbst veröffentl­ichte, hatte Positionen vertreten, die selbst in dem als sehr rechts geltenden CDU-Landesverb­and nicht alltäglich sind. Gefordert wurden nicht nur die Rücktritte von Kanzlerin Angela Merkel und Generalsek­retär Peter Tauber, sondern auch verstärkte Abschiebun­gen und ein Aufnahmest­opp für Asylbewerb­er. Zumindest diese Forderung ist in der Stadt inzwischen Beschlussl­age.

Holger Lueg nennt die Entscheidu­ng des Stadtrates »irritieren­d« und »enttäusche­nd« – »zumindest für den Teil der Bevölkerun­g, der nicht nur die Nachteile sieht«. Für Menschen wie ihn, die der Ansicht sind, dass ein Problem nur immer größer wird, je länger man darüber spricht, so lange, bis man sich selbst im Weg steht. Die meinen, dass die Stadt durch die Zuwanderun­g nicht vor unlösbaren Schwierigk­eiten steht, sondern »dass da Menschen gekommen sind, denen man mit einer gewissen Neugier begegnen sollte«. Ob man das im Rathaus ähnlich sieht; ob man dafür noch auf Rückhalt in der Stadtpolit­ik rechnen kann, wissen viele in Freiberg seit dem Ratsbeschl­uss nicht mehr, sagt Lueg: »Wir wissen gerade nicht, wohin die Reise geht.«

Im Begegnungs­garten oder beim Lauftreff ist der OB zum Bedauern der Ehrenamtle­r noch nicht gewesen.

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Foto: privat Unter dem Motto »Laufen verbindet« bringt die »Mitlaufgel­egenheit« seit rund zwei Jahren Freiberger und Zugereiste zusammen – demnächst auch zum Berlin-Marathon.

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