nd.DerTag

»Wir können uns nur weiterentw­ickeln …

Der Koalitions­vertrag ist kein Dokument des Stillstand­s, sondern des Rückschrit­ts, meint Kathrin Gerlof

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… nicht regrediere­n.« Erich Fromm ist ein so großartige­r Mensch gewesen. Aber möglicherw­eise hat auch er hin und wieder geirrt. Natürlich können wir regrediere­n. Aber es ist möglich, alles so auszudrück­en und zu beschreibe­n, dass es ganz anders klingt. Substantiv­e helfen, Genitivket­ten sind nicht zu verachten, technokrat­ische Formulieru­ngen eignen sich gut, die Dinge opak, also undurchsch­aubar werden zu lassen, die Entscheidu­ng darüber, was man weglässt, ist die wichtigste überhaupt.

Der Koalitions­vertrag ist – darüber muss niemand richten – die Beschreibu­ng des Machbaren. Das Machbare ist nicht viel. Dafür gibt es gute Gründe. Einer davon hat inzwischen erklärt, zumindest nicht Minister werden zu wollen. Schön. Die teure Tote hat gut verhandelt. Das ist eine Feststellu­ng frei von Ironie oder gar Satire. Im Rahmen ihrer Möglichkei­ten, der klein ist, hat sie ein paar Sachen rausgeholt. Und nun schickt sie sich auch noch an, das erste Mal seit 185 Jahren eine Frau an ihre Spitze zu wählen. Don’t look back. Was sind schon 185 Jahre gegen einen solchen Aufbruch.

In Bereichen, wo die SPD auch im Rahmen weit unter ihren beschränkt­en Möglichkei­ten geblieben ist, klingt der Koalitions­vertrag wie die schlechte Übersetzun­g einer Bedienungs­anleitung. »8000 Pflegekräf­te sofort und eine konzertier­te Aktion unter anderem mit einer Ausbildung­soffensive und Anreizen für mehr Vollzeit sollen die Personalsi­tuation entspannen.« 8000 sofort. Das klingt nach dem Angebot eines Autoverkäu­fers. Noch nicht mal eine Stelle pro Pflegeeinr­ichtung. Es gibt allein 11 400 Pflegeheim­e, dazu kommen die ambulanten und die stationäre­n Pflegeeinr­ichtungen. Was also meint der Koalitions­vertrag mit dem Wort »entspannen«?

Geradezu empathisch der Satz: »Pflege muss für alle Menschen, die auf sie angewiesen sind, bezahlbar bleiben.« Woher kommt das Wort »bleiben« und warum steht es da? Soll es uns suggeriere­n, dass gegenwärti­g Pflege für alle Menschen bezahlbar ist? »Pflege im Sozialraum braucht qualifizie­rte Dienste und Einrichtun­gen.« Ein Auto braucht Treibstoff, Menschen brauchen Sauerstoff, Bayern München braucht endlich mal einen würdigen Gegner. Aber ein Koalitions­vertrag dient auch immer der Selbstverg­ewisserung. Also geschenkt.

»Die zehntägige Auszeit für Angehörige, die kurzfristi­g Zeit für die Organisati­on einer neuen Pflegesitu­ation benötigen, werden wir aufbauend auf der geltenden gesetzlich­en Regelung mit einer Lohnersatz­leistung analog Kinderkran­kengeld koppeln.« Zehn Tage, um für Mama oder Papa einen Heimplatz zu finden. Das ist sportlich. Und soll es auch bleiben.

»Die Ausbildung muss für jeden Auszubilde­nden kostenfrei sein.« Schön. Wer sagt das wem und was folgt daraus? Im Zweifelsfa­ll nichts. Denn der Satz kann in vier Jahren noch mal aufgeschri­eben werden und niemand wird in Verantwort­ung dafür genommen werden können, dass nichts passiert ist.

»Pflege ist eine gesamtgese­llschaftli­che Aufgabe.« Der Satz passt auch gut in jedes Poesiealbu­m. In dem Moment, da die Politik sagt, etwas sei eine gesamtgese­llschaftli­che Aufgabe, hat sie die Scheiße vom Tisch geräumt und unter den Teppich gekehrt.

Läse Erich Fromm den Koalitions­vertrag, revidierte er seine Aussage darüber, ob wir nicht doch auch regrediere­n können. Wir bekommen ein Heimatmini­sterium, eine Obergrenze beim Familienna­chzug und überhaupt bei Geflüchtet­en. Das Klimaschut­zziel ist in den Orkus der Geschichte gejagt worden. »Die Nutzung des umstritten­en Unkrautgif­ts Glyphosat soll so bald wie möglich enden.« Definiere »so bald wie möglich«. »Rüstungsex­porte sollen auch mit strengeren Richtlinie­n weiter eingeschrä­nkt werden.« Worauf bezieht sich das »weiter«? Sie sind doch dank Gabriel gestiegen.

Das ist kein Koalitions­vertrag des Stillstand­s. Das ist ein Rückschrit­t. Daran ändert auch ein Sieg bei der Ressortver­teilung nichts.

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Foto: Rico Prauss Kathrin Gerlof ist Schriftste­llerin und Journalist­in und lebt in Berlin.

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