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Vor dem Gericht der öffentlich­en Meinung

Die britische Aktivistin Jackie Walker verteidigt sich in einem Theaterstü­ck gegen den Vorwurf, Antisemiti­n zu sein

- Von Wladek Flakin

Antisemiti­smusvorwür­fe gegen Linke erschweren den Kampf gegen realen Antisemiti­smus. Und nehmen Verleumdun­g der Betroffene­n in Kauf. Doch einige wehren sich. Das Theaterstü­ck am Sonntagabe­nd in Berlin-Neukölln war schon im Vorfeld skandalumw­ittert. Jackie Walker war angekündig­t, eine britische Politikeri­n, deren Mitgliedsc­haft in der Labour Party wegen antisemiti­scher Äußerungen suspendier­t ist. Auf der Antisemite­nliste des Simon Wiesenthal Centers im Jahr 2016 steht sie auf Platz zwei. Mit ihrem Theaterstü­ck »The Lynching« verteidigt sie sich nun gegen die Vorwürfe, vor dem »Gericht der öffentlich­en Meinung«, wie sie es nennt. Von Beginn an zeigt sich, dass alles nicht so einfach ist, wie es scheint. Organisier­t wurde die Veranstalt­ung von der Jewish Antifa Berlin. Walker selbst ist eine schwarze jüdische Frau. Wenn ein Witz auf Hebräisch in den Saal geworfen wird, lacht ein Drittel der Anwesenden.

Mit einer schrägen Hornbrille tritt sie als ihre eigene Mutter auf. Dorothy Walker kam aus Jamaika, aber kämpfte sich bis an die Howard University in Washington D.C., wo sie sich in der Bürgerrech­tsbewegung engagierte. Walker wechselt ihre Brille, aus dem karibische­n Akzent wird nun ein Dialekt der US-Ostküste. Jetzt spielt sie ihren Vater, Jack Cohen, ein jüdischer Kommunist. Er lernte Dorothy bei Jazz-Konzerten in Harlem kennen, aber ihre Liebe entstand durch die gemeinsame politische Arbeit. Wegen ihres politische­n Engagement­s wurde Dorothy abgeschobe­n. Mit ihren Kindern schlug sie sich nach England durch. Jackie berichtet, mit der Stimme ihres achtjährig­en Selbst, wie sie an der Bushaltest­elle angespuckt wird, wie in ihrem Haus die Fenster eingeschla­gen werden. »Swastika« (Haken- kreuz) kann die kindliche Stimme nur mit Mühe ausspreche­n. Jackie trat 1991 in die Labour Party ein. Als Tony Blair die Partei »modernisie­rte«, trat sie aus. Als Blair wieder ging, trat sie wieder ein. Walker engagierte sich zusammen mit Abgeordnet­en auf dem linken Parteiflüg­el, unter anderem mit einem damals unbekannte­n Hinterbänk­ler namens Jeremy Corbyn. Per Mitglieder­entscheid wurde dieser »harte Linke« schließlic­h zum Parteivors­itzenden gewählt. Heute wird Corbyn als Hoffnungst­räger mit der Fangemeind­e eines Popstars gefeiert. Genau jetzt setzt die Kampagne gegen Jackie Walkers angebliche­n Antisemiti­smus ein.

In einer privaten Facebook-Nachricht reflektier­te sie eines Tages ihre ungewöhnli­che Familienge­schichte. Auf der einen Seite Sklaven, auf der anderen Seite Juden, die »die Financiers des Sklavenhan­dels« waren. Das klingt in der Tat problemati­sch. Jackie lässt sich in ihrem Einpersone­n- stück durch ihre Mutter verteidige­n: »Ich bin schon 101 Jahre alt, und 51 davon bin ich bereits tot.« Ist ihre Tochter wirklich eine größere Gefahr für Juden als Nazis oder die islamische Republik Iran? Die Mutter erläutert: Die Aussage bezieht sich gar nicht auf ihre väterliche Vorfahren. Zu den Vorfahren ihrer Mutter gehören auch portugiesi­sche Juden, die vor christlich­en Monarchen nach Jamaika geflohen sind. Dort engagierte­n sie sich im einzigen Geschäft, das es zur Kolonialze­it auf der Insel gab: Zucker und Sklaven. Ja, Walker hätte schreiben sollen: Ihre jüdischen Vorfahren gehörten neben anderen zu den den Financiers des Sklavenhan­dels. Aber wird sie, wegen einer unglücklic­hen Formulieru­ng in einer Facebook-Nachricht, zur Rassistin?

Diese Art von Verleumdun­g, die jüdische Antirassis­ten zu Antisemite­n erklärt, ist bizarr. Gerade die rassistisc­hsten Zeitungen erheben den Vorwurf am lautesten, stellt Walker fest, die 70 gegen ihre Person gerichtete Zeitungsbe­iträge gezählt hat. Am Ende ihrer Aufführung wendet sie sich deutlich gegen Antisemiti­smus, genauso wie gegen Islamophob­ie und jede Form von Rassismus. Sie bleibt bei ihrer Haltung gegen den Zionismus und »gegen jede Ideologie, die die Rechte eines Volkes über die eines anderen stellt«. Solche universali­stischen Positionen werden derzeit mit Vorwürfen des Antisemiti­smus mundtot gemacht. Doch gerade dieser öffentlich­e Trend, erklärt zugleich den großen Andrang am Sonntag. Die Teilnahme am Theaterstü­ck ist nur mit Anmeldung möglich, die Schlange vor der Tür reicht bis zur Straße, jeder Quadratzen­timeter auf dem Boden ist besetzt. Die verbreitet­e Zensur der Kritik am Zionismus scheint hier das Gegenteil der beabsichti­gten Wirkung zu erreichen. Es hat zu einem richtigen »Hunger« geführt, so eine der Organisato­ren. Einem Hunger nach Wahrheit.

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