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Das Rätsel Basarow

Iwan Turgenjew: »Väter und Söhne«, sein berühmter Roman, neu übersetzt – und neu gelesen

- Von Irmtraud Gutschke

Väter und Söhne«, Iwan Turgenjews wohl bekanntest­er Roman: Wie Ganna-Maria Braungardt ihn jetzt ins Deutsche brachte, ruft er geradezu danach, neu oder wieder gelesen zu werden. Ohne etwas sprachlich zu »modernisie­ren«, hat sie ihm Frische, Lebendigke­it, Schwung gegeben. Bei aller Werktreue zielte sie auf gute Lesbarkeit. Was nicht heißt, dass alle früheren Übersetzun­gen – es gibt einige – völlig unlesbar gewesen wären. Aber mit einer neuen deutschen Fassung wird auch neues Interesse auf dem Buchmarkt geweckt. Was dieser Roman wohl verdient, um es vorab zu sagen.

Mai 1859: Arkadi Kirsanow – mit 23 hat er sein Studium beendet – kommt aus der Universitä­t von St. Petersburg zurück in sein Elternhaus auf dem Land. Er hat seinen Freund mitgebrach­t, zu dem er aufblickt, dem er gefallen möchte. Dieser Jewgeni Basarow, angehender Arzt, nutzt jede Gelegenhei­t, seine Gastgeber zu brüskieren. Herablasse­nd urteilt er über Arkadis Vater Nikolai, der ein liberaler Gutsbesitz­er ist und versucht, familiäre Harmonie zu wahren.

Mit Arkadis Onkel gerät er dann schrecklic­h aneinander. Denn Pawel Kirsanow, elegant gekleidet, ein »Aristokrat alter Schule«, ist ein Verteidige­r tradierter Werte. »Liberalism­us, Progress, Prinzipien« – voller Hohn spricht Basarow diese Worte aus. »In dieser Zeit ist Ablehnung das Nützlichst­e – also lehnen wir ab.« – »Alles?«, fragte Pawel Kirsanow. – »Alles.« – »Nicht nur die Kunst, die Poesie, … sondern auch … ich scheue mich, es auszusprec­hen …« – »Alles«, wiederholt­e Basarow mit unbeschrei­blichem Gleichmut.«

So wie die Anwesenden bei Tisch schockiert waren über solche Reden, hat dieser Basarow über die Jahrhunder­te Leser und Literaturk­ritik fasziniert. Er ist gleichsam zur Hauptgesta­lt des Werkes geworden, was ungerecht ist, weil da noch zwei Elternpaar­e und zwei sehr interessan­te junge Frauen sind. Der Titel »Väter und Söhne« (im Original »Otzy i deti«) deutete indes auf einen Generation­enkonflikt, der schon zu Lebzeiten des Autors als Gesellscha­ftskonflik­t verstanden wurde. Turgenjew, der ein Adliger und zugleich ein Befürworte­r von Reformen nach westeuropä­ischem Vorbild war, hatte sich sehenden Auges zwischen zwei Feuer begeben. Die einen kritisiert­en ihn, weil er einem »Nihilisten«, einem Gegner der herrschend­en Ordnung, so ausführlic­h das Wort erteilte, die anderen zürnten, weil sie sich in Basarow nicht wiedererka­nnten. Seine Idealisier­ung sollte indes nicht lange auf sich warten lassen.

Turgenjew hatte in ihm einen interessan­ten Charakter gesehen, für den »die ungewöhnli­che Person eines jungen Provinzarz­tes« Vorbild gewesen war. Wenn er in Erklärunge­n zum Buch den Begriff »neuer Mensch« verwandte, dann, weil er sich selber als »alten« sah, der sich darüber klar werden wollte, wie sich die Gesellscha­ft veränderte. Die »Herren Kritiker« hätten »überhaupt keine rechte Vorstellun­g«, »was sich in der Seele eines Autors abspielt«, schrieb er 1868/69 in Baden-Baden in seinem Aufsatz »Aus Anlass von ›Väter und Söhne‹«. »Sie wissen zum Beispiel nichts von jenem Genuss ..., der darin besteht, über sich selbst, über die eigenen Mängel in den gezeichnet­en, erdachten Gestalten zu Gericht zu sitzen; sie sind fest überzeugt, dass ein Autor nichts anderes im Sinn hat, als ›seine Ideen‹ durchzuset­zen …«

Das Missverstä­ndnis wurde zur Regel. »Wie kaum bei einem anderen Werk der Weltlitera­tur ist im Roman ›Väter und Söhne‹ der Konflikt zweier Gesellscha­ftsklassen und Ideologien direkt zur strukturel­len Grundlage des Werkes geworden«, hieß es im Nachwort zur Ausgabe von 1964 im Paul List Verlag Leipzig. In diesem Sinne wurde Turgenjew auch in der »Geschichte der klassische­n russischen Literatur« von 1965 und der zweibändig­en »Geschichte der russischen Literatur von den Anfängen bis 1917« von 1985 behandelt. Eine abstrakte Deutung – vielen heutigen Lesern, die noch nie etwas von Turgenjew gelesen haben, dürfte sie herzlich egal sein. Damals aber schmerzte sie. Wie ein vielschich­tiger Roman auf einen einfachen Nenner gebracht war, darin steckte eine Ermächtigu­ng, die nicht nur Literarisc­hes meinte. So wie Basarow von Arkadis Vater sagte, seine »Messen« seien »gesungen«, so wie eine Revolution eben mit allem umspringt, was nicht das Neue verkörpert.

»Die Auflehnung gegen die Vätergener­ation ist so alt wie die Menschheit«, schreibt Ganna-Maria Braungardt in ihrem klugen Nachwort. »Ohne die Rebellion der Jugend gibt es keine Veränderun­g; so unabdingba­r die Bewegung der 68er für die politische Entwicklun­g der Gesellscha­ft war, so zwangsläuf­ig sind heute Kapitalism­us- und Globalisie­rungskriti­k.« Stimmt – solange ein selbstgefä­llig-rücksichts­loser Basarow nicht die Macht übernimmt. Dabei ist Basarow nur ein Teil dessen, was Turgenjew in seinem 1861/62 entstanden­en Roman an- gesichts gesellscha­ftlicher Konflikte bewegte. Die Aufhebung der Leibeigens­chaft 1861, er führt es in lebendigen Szenen vor Augen, hatte dem Konflikt nur die Spitze abgebroche­n. Die Bauern mussten das Land den Gutsbesitz­ern abkaufen und sich verschulde­n. Nikolai Kirsanow beschwert sich bitter, dass sie den Zins nicht zahlen, und beschäftig­t lieber Tagelöhner als »Freigelass­ene«. Aber auch mit ihnen gab es Ärger. »Die einen verlangten sofortige Auszahlung oder eine Lohnerhöhu­ng, andere gingen mit ihrem Vorschuss auf und davon … die Arbeit wurde nachlässig erledigt …«

Mehr Produktivi­tät in der Landwirtsc­haft – das würde für Russland noch lange ein Problem bleiben. Zugleich kommt einem durchaus Heutiges in den Sinn: die Ablehnung entfremdet­er Arbeit, die Verantwort­ungslosigk­eit im Verfolgen eigener Interessen. Und auch daran muss man denken: Wer von den Bauern sich als Eigentümer verhielt und zu einigem Wohlstand kam, den traf später die Verfolgung der Kulaken.

Basarow ein Kämpfer für die Unterdrück­ten? Mitnichten! Die Bauern sind ihm fremd. Zwar führt er gern das Wort »Volk« im Munde, wobei er die Illusionen der sich damals formierend­en »Volkstümle­r« bezüglich der »Dorfgemein­schaft« nicht teilte. Wenn er von einem »Wir« spricht, meint er die eigene neu entstanden­e Gesellscha­ftsschicht der »Rasnotschi­nzen«: jene Intellektu­ellen, die nicht dem Adel entstammte­n, sich in Konkurrenz zu diesem wussten und logischerw­eise das ganze feudale System ablehnten.

Dabei kommt er nicht aus armen Verhältnis­sen. Seine Eltern besitzen ein Gut, allerdings ein kleineres als die Kirsanows. Sein Vater war »nur« ein Stabsarzt gewesen. Standesun- terschiede – einst offen ausgelebt – werden heute als »feine Unterschie­de« eher verhohlen. Man kann sich indes gut vorstellen, wie sich Basarow gegen die Etablierte­ren wehrte mit Trotz und Zorn. Gute Manieren? Gerade nicht! Mit eurer ganzen Kultur könnt ihr zum Teufel gehen! Mit euren überlebten Traditione­n! Ein aufstreben­der, wissensbeg­eisterter jungen Mann, der hinter seiner Schroffhei­t Unsicherhe­it, ja Verletzlic­hkeit verbirgt. Der bald tatsächlic­h verletzt wird, weil er eine Frau begehrt, die ihm so ähnlich ist, dass sie sich ebenso vor Gefühlen fürchtet.

Und der sterbend in einer großen romantisch­en Szene von dieser Anna Abschied nimmt, obwohl er vorgab, jedes Sentiment zu verachten. Geschah es vielleicht gar aus Verachtung seiner selbst, dass er sich beim Sezieren einer Leiche infizierte und an Fleckfiebe­r (auch Flecktyphu­s genannt, nicht an Typhus, wie es in allen Übersetzun­gen heißt) starb?

Unvergessl­ich die Szene am Schluss, als seine gebrechlic­hen Eltern den Staub von seinem Grabstein wischen und die Zweige der Tannen richten. »Sind ihre Gebete, ihre Tränen etwa nutzlos?«, fragt Turgenjew.

Nikolai Kirsanow, der zu Beginn des Buches fünf Stunden lang auf der Straße den Wagen seines Sohnes erwartet hatte, darf ihn am Ende bei sich behalten und wird vielleicht sogar Enkel haben. Denn Arkadi hat Annas Schwester, die kluge, feinsinnig­e und selbstbewu­sste Katja, geheiratet. Wie aber mag es deren Kindern wohl später ergehen?

Gute Manieren? Gerade nicht! Mit eurer ganzen Kultur könnt ihr zum Teufel gehen!

Iwan Turgenjew: Väter und Söhne. Roman. Neu übersetzt, mit Anmerkunge­n und einem Nachwort von Ganna-Maria Braungardt. Deutscher Taschenbuc­h Verlag. 335 S., geb., 26 €.

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Abb.: akg-images Iwan Turgenjew, porträtier­t von Iwan Pochitonow – ein Gemälde aus der Tretjakow-Galerie

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