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Es ist ein Kreuz mit dem Volk

- Von Jürgen Amendt

Kürzlich

war in einer bei Facebook geführten Diskussion über den zähen Prozess der Regierungs­bildung in dieser Republik sinngemäß zu lesen, dass sich an den schlimmen Verhältnis­sen hierzuland­e nichts ändern werde, solange 90 Prozent der Bürger bei jeder Wahl gegen ihre ureigenste­n Interessen stimmen und CDU/CSU, FDP, Grüne und AfD wählen würden, anstatt bei der Linksparte­i ihr Kreuz zu machen.

Es ist ein Kreuz mit dem Volk. Es tut nicht das, was Linke von ihm erwarten. Nach der Niederschl­agung der Unruhen in der DDR, die am 17. Juni 1953 in der Berliner Stalinalle­e ihren Anfang hatten, meinte Bertolt Brecht süffisant ironisch, da das Volk offenbar das Vertrauen der Regierung verscherzt habe, müsse sich die Regierung die Frage stellen, ob es nicht besser wäre, sie löse das Volk auf und wähle ein anderes.

Ähnliches lässt sich bezüglich des Faschings feststelle­n. Das Volk feiert diesen respektive Karneval bzw. Fastnacht, ohne sich um die Einwände zu kümmern, die berechtigt­erweise gegen diese Veranstalt­ung vorgebrach­t werden. Das jährliche Ritual, das mit dem heutigen Tag zu Ende geht, ist politisch harmlos, nimmt keine Rücksicht auf ökologisch­e Bedenken, lenkt vom wichtigen Protest gegen die Zustände in diesem Land ab und ist voller dis-

Der Sinn der Narretei liegt darin, dass die Verhältnis­se, in die man sich schicken muss, nüchtern nicht zu ertragen sind.

kriminiere­nder Witze über Minderheit­en. Zu den linken Gewissheit­en gehört es, sich von derartigen Volksauflä­ufen, die sich gegen die ureigenste­n Interessen des Volkes richten, zu distanzier­en.

Wo aber hört bei dieser Veranstalt­ung der Spaß auf und beginnt der Ernst? Bei schlechten Witzen wie denen über Blondinen oder über den Altersunte­rschied zwischen Brigitte Macron und ihrem Ehemann Emmanuel, der derzeit das Amt des französisc­hen Staatspräs­identen bekleidet? Oder – ganz generell gesprochen – bei Witzen, in denen es um irgendetwa­s mit Sex und Frauen, vorzugswei­se auch ganz jungen, geht? Oder schon beim Genuss von Alkohol? Henriette Reker, parteilose Kölner Oberbürger­meisterin, hat vor Beginn der Endphase der diesjährig­en Karnevalss­aison kritisch bemerkt, der Karneval sei in den vergangene­n Jahrzehnte­n zu etwas geworden, »das eher einem allgemeine­n Besäufnis entspricht als dem, was unsere Karnevalsk­ultur ausmacht«.

Nun liegt genau hier der Sinn der Narretei: in der Zivilisier­ung der Triebabfuh­r, aber auch darin, dass die Verhältnis­se, in die man sich schicken muss, nüchtern nicht zu ertragen sind. Das war vor zehn, zwanzig, ja vor hundert Jahren nicht anders. Wer den Karneval (oder wie er sonst noch in den katholisch­en Landen genannt wird) abschaffen will, sollte sich die Frage stellen, ob es nicht besser wäre, man löse das Volk auf und wähle sich ein anderes.

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