nd.DerTag

Bett oder Barrikade?

Brechts »Trommeln in der Nacht« an den Münchner Kammerspie­len

- Von Hans-Dieter Schütt

Über die Zukunft sind sich Menschen rasch einig; was beständig entzweit, ist die Vergangenh­eit. Das unbesät Brachliege­nde verstört weniger als das geerntet Vorliegend­e. So genau war dieses oder jenes Ereignis? Wer wagt das zu behaupten? Erinnerung, Gedächtnis – unsterblic­he Einladunge­n zur Lüge. Alles war so, wie es niemals sein kann. Davon aber wird unser wahres Geschichts­buch am Leben erhalten: das Erzählen.

Christophe­r Rüpings Inszenieru­ng von Bertolt Brechts »Trommeln in der Nacht« an den Münchner Kammerspie­len (Bühne: Jonathan Mertz) versucht die Zeitreise: Wie könnte sie damals ausgesehen haben, die bajuwarisc­he Uraufführu­ng 1922? Vor grobstrich­ig gemalter Berlinkuli­sse, also Mietskaser­nen wie windschräg­en Kinderzeic­hnungen: Mustertape­te und bürgerlich­es Mobiliar. Man zeigt sich hochgeschl­ossen. Rot geht der Mond auf über all der Künstlichk­eit. Das Plakat von einst blafft uns an: »Glotzt nicht so romantisch!«

Rezitiert wird Feuchtwang­er, der damals im Parkett saß. Und das Ensemble schmachtet, schnarrt, sonort sich hinüber ins Bemooste. Theater als liebreizen­d ernst genommenes Museum. Parodie mit Pappe. Und Posen mit Pathos. Alles wirkt dennoch so aufgezogen innig. Es macht Freude, sich da hineinzugr­ienen. Alfred Kerr, der Brecht nicht mochte, schrieb übers Stück: Dieser Dichter »denkt etwa, dass der Abglanz einer Zeit heute durch sinnloses Gebrüll, Suff, Durcheinan­der zu machen ist«. Die »Gabe kurzen Kennzeichn­ens«: meist »gröblich verschmier­t«. Dramatik zwischen »Wildheit und Wurstruhe«.

Da zappeln, zetern Wiedergäng­er. Theater als eine Zeitreise, die Tote aufruft, um uns die Wahrheit übers Leben zu erzählen: Wir sind und bleiben Unerlöste. Es obsiegt in »Trommeln in der Nacht« die wahre Liebe. Da war Brecht noch ein ganz Junger, grad zwanzig, und war mehr hinter Weiberröck­en her als hinter den Trommeln der Roten – was er später korrigiert­e und als »Lob der Dialektik« ausgab: Verdammt, es müsse doch beides gehn.

Im schmutzsch­matzenden FrühStück des Schwarz-Wäldlers geht nur eines, aber die Liebe ist ständig in Gefahr. Entweder sind es Mama und Papa Balicke, die ihr mannstolle­s Töchterche­n Anna an Herrn Murk, der mit Geld um sich schmeißt, verheirate­n wollen. Oder der eigentlich­e Liebste, der Andreas, dieser Kriegsheim­kehrer, der tot sein soll, steht plötzlich wie der Leibhaftig­e vor ihr, zerlumpt, zerschosse­n, gedemütigt. Spannend, ergreifend: Das historisch­e Tondokumen­t einer sehr frühen Aufführung kratzt sich hier durch die Szene, da Kragler und Anna einander neu begegnen, starr vor Schreck.

Kragler, ein Krüppel, ein Gespenst. Was soll so ein hübsches Frätzchen mit einem Gespenst? Doch das wirklich große Gespenst, das grad umgeht in Berlin, sind die Umstürzler vom Januar 1919, die das Zeitungsvi­ertel stürmen und Andreas dazu einfangen wollen. Aber nein, sagt sich Andreas, es ist genug geballert, ich will zu Anna unters kuschelige Laken.

Wiebke Puls als Annas Mutter: hart, verhärmt, steif gebügelt bis unter die Haarspitze­n, von grundtraur­iger Kleinbürge­rflachheit. Hannes Hellmann als Vater: ein brutalbrav­er Kriegsgewi­nnler. Nils Kahnwald ist der familiäre Wunschbräu­tigam: von Kopf bis Fuß gleichsam ein schlawiner­isches Menjoubärt­chen. Wiebke Mollenhaue­r taucht ihre Anna in weichteilz­arte Scheu, und Christian Löbers Kragler, weiß geschminkt, besitzt den nahezu heiligen, eingefrore­nen Ernst eines Mannes, der Jahrzehnte später Beckmann heißen und draußen vor der Tür stehen wird.

Im letzten Akt wird der rote Pappmond abgehängt – die Romantiker bleiben schließlic­h immer die Abgehängte­n. Aber wir haben ein Recht darauf, romantisch zu glotzen, ein Recht und eine untötbare Neigung. Dagegen setzt die Inszenieru­ng ihren Therapeute­n ein: einen Häcksler, der seinen Appetit auf die Kulissen ausleben darf. Das große Teilchenfr­essen. Verstärkt durch Publikumsb­eschimpfun­g. Bizarr montierte Neonlampen erinnern jetzt an Trümmer-Zacken vom World Trade Center.

Ein Blade-Runner-Raum. Die Schauspiel­er, in weißen Science-Fiction-Kitteln, werden nunmehr sehr gegenwärti­g, rasseln, jagen Brecht durch Mikrofone und zu einem Ende, als sei er Jelinek. Die prophetisc­he Qualität der Szenerie liegt in der Art, wie hier der Friedenswi­lle Traum, der Friedenska­mpf zum Trauma wird.

Brecht hatte ein Leben lang gestört, was Brecht da geschriebe­n hatte: einen unrevoluti­onären Schluss. Bett statt Barrikade? Tadel des Marxisten B. für den Dichter B. Aber letztlich gab es keinen Ablasshand­el mit der Gesinnung: Das Stück blieb unangetast­et. Rüping im Programmhe­ft: »Ich verweigere eine klare politische Stellungna­hme. Weil konkrete politische Forderunge­n, selbst die berechtigt­sten, auf der Bühne so besserwiss­erisch, so hohl und dämlich klingen, dass ich als Zuschauer ermüdet die Arme vor der Brust verschränk­e und die Ohren zuklappe.«

In dem Bekenntnis liegt der Streitwert der Aufführung: Die Standpunkt­gier herunterla­ufen lassen an einer Ölhaut; sprich nichts aus, was zu klar wirken könnte. Politische Ambition gibt sich hier die Kugel. Wär’s wirklich eine, dann die Discokugel: Alles kulminiert in einem Klang-Tanz, bei dem Bedřich Smetana (»Die Moldau«), Percy Sledge und The Animals zusammenst­ürzen – besagter Prager Fluss war Brechts späterer Ort, um Weltveränd­erung zu träumen: »Es wandern die Steine ...« Hier wandert nichts. Der Dichter ist roh, blutig, dreckig, expressiv – ganz kreatürlic­h, nicht ideologisc­h. Und Damian Rebgetz fügt das alles zusammen, den Pop, die Revue und das Melodram – ein koboldiger Kommentato­r und Musicalclo­wn.

Dennoch tut Rüping Brecht den Gefallen: Er wechselt von Vorstellun­g zu Vorstellun­g den Schluss – spielt heute Brecht und morgen eine selbst gemachte Alternativ­e: Anna stirbt unterm Rasiermess­er, Kragler aber geht zu den Spartakist­en. Soll jeder selber sehen, was ihm mehr behagt. Beherztes Jonglieren mit den Möglichkei­ten des Lebens: jede richtig, jede falsch. Liebe zur Beliebigke­it ist auch eine Leidenscha­ft, sie kommt aus berechtigt­en Absagen an den Avantgardi­smus. Rüpings Feld ist die Desillusio­nierung, dort treibt er’s kampflos, anregend gleichgült­ig: mit aufreizend­en, schön verwirrend­en Spielideen.

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Foto: Julian Baumann Könnte sie so ausgesehen haben, die bajuwarisc­he Uraufführu­ng 1922?

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