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Dokument mit Leerstelle­n

LINKE-Vorsitzend­er Bernd Riexinger über die Krise der SPD und die Leerstelle­n im schwarz-roten Koalitions­vertrag

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LINKE-Chef Bernd Riexinger über den Koalitions­vertrag.

Der schwarz-rote Koalitions­vertrag liegt vor, die Ministerpo­sten sind verteilt, jetzt hängt alles von der SPD-Basis ab. Was erwarten Sie von diesem Mitglieder­entscheid?

Ich kann alle SPDler verstehen, die nicht für diesen Koalitions­vertrag stimmen, weil er so viele Leerstelle­n hat, weil er nur Pflästerch­en auf Wunden klebt, die die SPD selber geschlagen hat. Die größte Sünde begeht die SPD bei der Arbeitsmar­ktpolitik; da hatte sie ganz gute Vorstellun­gen im Wahlprogra­mm, aber jetzt ist nichts drin zu Leiharbeit, nichts zu Werkverträ­gen, nichts zur zurückgehe­nden Tarifbindu­ng, kein höherer Mindestloh­n.

Bleibt der SPD-Basis denn etwas anderes übrig als eine Zustimmung zum Vertrag, wenn nicht Neuwahlen mit einer vielleicht noch viel stärkeren AfD und einer noch viel schwächere­n SPD das Ergebnis sein sollen?

Die SPD steht zwischen Pest und Cholera. Egal, was sie macht, es kommt für sie kein Sprung nach vorne heraus. Aber in diese Situation hat sie sich selber gebracht, ohne Orientieru­ng auf einen Politikwec­hsel. Das ist halt so: Wenn man aufs kleinere Übel setzt, kriegt man das größere.

Die Sozialdemo­kraten halten sich eine ganze Reihe von Ergebnisse­n der Koalitions­verhandlun­gen zugute. Ein paar Beispiele. Die Möglichkei­ten zur Befristung von Jobs ohne Begründung werden eingeschrä­nkt. Ist das gut, oder ist es zu wenig?

Zu wenig. Es gibt keinen Grund, sachgrundl­ose Befristung­en überhaupt zu erlauben. Eine sechsmonat­ige Probezeit würde völlig ausreichen, dann wissen die Betriebe, ob der Beschäftig­te zu ihnen passt oder nicht und umgekehrt. Und die Ausnahmere­gelungen für Kleinbetri­ebe mit bis zu 75 Mitarbeite­rn nutzen auch vielen Großkonzer­nen. Im Lebensmitt­el- und im Textilhand­el sind viele Filialen großer Unternehme­n selbststän­dig. Die dürfen unveränder­t befristen.

Die Arzthonora­re sollen durch eine Kommission überprüft werden. Gut oder zu wenig?

Das ist eigentlich gar nichts. Das ist nicht mal ein Einstieg in die Bürgervers­icherung, die die SPD wollte. Ich dachte, dass zum Zwecke der Gesichtswa­hrung wenigstens so etwas wie ein Wahlrecht für Beamte zwischen gesetzlich­er und Privatkass­e eingeführt wird. Aber nicht einmal das. Das Grundprobl­em der gesetzlich­en Krankenver­sicherung ist nach wie vor, dass Einnahmen aus Kapitalver­mögen nicht herangezog­en werden – also keine Mieteinnah­men, keine Zinseinkün­fte usw.

Der Familienna­chzug für Flüchtling­e wird in Grenzen ermöglicht. Gut oder zu wenig?

Hier hat sich ganz klar Seehofer durchgeset­zt, nicht die SPD.

Das Rentennive­au wird festgeschr­ieben bis 2025.

Bis 2024 war es sowieso schon fixiert, bei 48 Prozent. Wir werden weiterhin in hohem Ausmaße Armutsrent­en haben. Die Verkäuferi­n und die Erzieherin werden im Alter Pfandflasc­hen sammeln, wenn die Regierung nicht endlich handelt.

In der Pflege sollen 8000 neue Arbeitsplä­tze entstehen – gut oder zu wenig?

Bei 13 000 Altenpfleg­eeinrichtu­ngen sind das 0,6 Stellen pro Einrichtun­g. Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Zumal es noch -zig mobile Pflegeeinr­ichtungen gibt, die gar nicht davon betroffen sind. Diese »Großzügigk­eit« kostet die Große Koalition keinen Cent – zahlen sollen dafür die Krankenkas­sen. Nach unserer Berechnung fehlen allein in der Altenpfleg­e 40 000 Stellen, und nach unabhängig­en Berechnung­en fehlen in den Krankenpfl­ege 100 000 Stellen.

Der Armutsfors­cher Christoph Butterwegg­e sagte im nd-Interview, im Koalitions­vertrag stehe nichts, was der weiteren Spaltung der Gesellscha­ft entgegenwi­rkt. Ist auch nach Ihrem Eindruck das Soziale die größte Leerstelle in dem Papier? Ja, neben der Arbeitsmar­ktpolitik. Prekäre Arbeit wird praktisch nicht verhindert. Das gehört zur sozialen Spaltung – dass immer mehr Menschen in Leiharbeit, Werkverträ­ge oder Befristung­en gedrängt werden. Die SPD hat darauf verzichtet, das Thema Reichtumsb­esteuerung in die Koalitions­verhandlun­gen einzubring­en. Und damit fehlen hinten und vorne Mittel, die man zur Armutsbekä­mpfung dringend gebraucht hätte.

Und nun will die SPD das Finanzmini­sterium mit Olaf Scholz beset-

zen. Der weist überhaupt keinen Unterschie­d zu Schäuble auf. Der ist für die Schwarze Null, der plädiert gegen jeden Umverteilu­ngskurs in der Steuerpoli­tik, gegen eine Vermögenst­euer, gegen einen höheren Spitzenste­uersatz. Da wird ein wichtiges Ministeriu­m für etwas benutzt, was nichts mit sozialdemo­kratischen Grundsätze­n zu tun hat.

Steht Andrea Nahles, die den SPDVorsitz übernehmen soll, nach Ihrem Eindruck für eine Rückbesinn­ung auf sozialdemo­kratische, soziale Grundwerte?

Wie so viele Jusos ist sie den langen Weg von links in die Mitte gegangen. Jetzt wirbt sie praktisch für weitere vier Jahre Kanzlersch­aft Merkel. Politikwec­hsel sieht anders aus, Erneuerung auch. Mit welchen Empfindung­en beobachten Sie die Krise der SPD?

Ohne jede Schadenfre­ude. Es ist ein Trauerspie­l. Die SPD ist zutiefst gespalten. Die Parteiführ­ung hat sich für eine Regierung unter Merkel und gegen ein grundlegen­d anderes Politikmod­ell entschiede­n, bei dem die Schere geschlosse­n wird zwischen Arm und Reich, der Arbeitsmar­kt ernsthaft reguliert wird, wirklich Geld in die Hand genommen wird fürs Öffentlich­e. Seit der Agenda 2010 hat sie nie die Kraft gefunden, das grundlegen­d zu korrigiere­n.

Warum kann die LINKE von dieser Schwäche der SPD nicht stärker profitiere­n?

Insgesamt stabil bei etwa zehn Prozent zu bleiben, dahinter steckt eine ziemliche Leistung. Aber in der Tat müssen wir die Frage stellen, warum wir in Ostdeutsch­land weniger Menschen als bisher erreichen und wie wir enttäuscht­en SPDWählern ein inhaltlich­es Angebot machen. Da haben wir einiges zu bieten: ein konkretes Rentenkonz­ept, ein Steuerkonz­ept, ein Investitio­nsprogramm, eine durchgerec­hnete solidarisc­he Krankenver­sicherung. Wir wollen den Menschen den Glauben daran zurückgebe­n, dass sie etwas bewegen können. Wir werden die Große Koalition unter Druck setzen und für neue linke Mehrheiten kämpfen.

Linke Mehrheiten – eine kühne Zielstellu­ng für eine Zehn-Prozent-Partei. Die werden ohne SPD wohl nicht zustande kommen. Jetzt geht diese Sozialdemo­kratie gegen den eigenen Willen wieder in eine Große Koalition. Die Grünen waren bereit, mit FDP und CDU/CSU eine Regierung zu bilden. Was heißt das alles für eine rot-rot-grüne Perspektiv­e?

Ich bin überzeugt, dass eine Mehrheit in der Bevölkerun­g für ein Rentensyst­em wie in Österreich erreicht werden kann. Oder eine Mehrheit, die gegen prekäre Arbeit ist. Eine Mehrheit, die der Meinung ist, dass Reiche und Superreich­e mehr Steuern be- zahlen müssen. Indem wir weiterhin Bündnisse mit Gewerkscha­ften, Flüchtling­shilfeorga­nisationen, Erwerbslos­enorganisa­tionen, Sozialverb­änden und Umweltschu­tzverbände­n schließen, können wir diese Interessen verankern, und das wird dann auch in Wählerstim­men umschlagen und Druck auf die SPD ausüben.

Ich glaube, die nächsten vier Jahre haben wir keine rot-rot-grüne Perspektiv­e. Wir sind klar in der Opposition, das müssen wir nutzen, um stärker zu werden.

Könnte ein Weg dazu die von Oskar Lafontaine ins Spiel gebrachte Sammlungsb­ewegung sein? Solange er nicht sagt, was die Inhalte seiner Geschäftsi­dee sein sollen, kann man darüber nicht vernünftig sprechen. Ich glaube, dass es gerade nix für eine neue Formation zu sammeln gibt. Sinnvoll ist doch, die LINKE stärker zu machen und mit immer mehr Menschen gemeinsam für ihre Interessen zu kämpfen. Das ist ein überzeugen­der Weg, um die Gesellscha­ft nach links zu rücken.

Die SPD hat darauf verzichtet, das Thema Reichtumsb­esteuerung in die Koalitions­verhandlun­gen einzubring­en. Damit fehlen hinten und vorne Mittel, die man zur Armutsbekä­mpfung gebraucht hätte.

Große Koalitione­n sind nach aller Erfahrung geeignet, die Leute von Politik abzuschrec­ken. Der AfDVorsitz­ende Jörg Meuthen hat gejubelt, nun kämen für die Opposition goldene Zeiten. Was kann die LINKE dazu beitragen, dass sich steigender Politikver­druss nicht weiter nach rechts entlädt?

Die AfD setzt auf den Kampf der Mitte gegen die Schwächere­n. FDP und Grüne machen Politik für Besserverd­ienende. Kapitalism­uskritik suchen Sie da vergebens. Wir sind die soziale Opposition­spartei, die für gute Löhne, gute Arbeit, gerechte Steuerpoli­tik, sozial-ökologisch­en Umbau und Frieden streitet. Und wir müssen deutlich machen, dass ein anderes Wirtschaft­ssystem mit gerechter Verteilung und Wirtschaft­sdemokrati­e keine Bedrohung ist, sondern für mehr Wohlstand sorgen kann.

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Foto: dpa/Britta Peders
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Foto: Uwe Steinert Bernd Riexinger, Jahrgang 1955, steht seit sechs Jahren gemeinsam mit Katja Kipping an der Spitze der Linksparte­i. Der Wehrdienst­verweigere­r und gelernte Bankkaufma­nn war Betriebsra­t, Sekretär der Gewerkscha­ft Handel, Banken und Versicheru­ngen und...

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