nd.DerTag

Längstes Jahr wo gibt

Seit 365 Tagen ist der Reporter Deniz Yücel im türkischen Gefängnis

- Net

Berlin. Heute vor einem Jahr ging der deutschtür­kische Journalist Deniz Yücel in Istanbul zu einer Polizeiwac­he. Über die Presse hatte er erfahren, dass ein Haftbefehl gegen ihn verhängt worden war. Man nahm ihn fest, er musste 13 Tage in Polizeigew­ahrsam verbringen, anschließe­nd kam er in Untersuchu­ngshaft. Seitdem sitzt Deniz Yücel in der intellektu­ellen Hochburg der gegenwärti­gen Türkei ein – der Haftanstal­t Silivri bei Istanbul, wo zahlreiche weitere Journalist­en, Akademiker, Intellektu­elle, Anwälte, Richter und Politiker festgehalt­en werden. Die Vorwürfe ähneln sich meist. Auch Deniz Yücel wird »Propaganda für eine terroristi­sche Vereinigun­g und Aufwiegelu­ng der Bevölkerun­g« vorgeworfe­n. Was hat er getan? Seinen Job gemacht – als Korrespond­ent für die »Welt«, die ihn 2015 nach Istanbul geschickt hatte. Nicht nur Yücels Arbeitgebe­r, auch Freunde und ehemalige Kollegen von »taz« und »Jungle World«, seine Frau und Familie haben sich im vergangene­n Jahr für seine Freiheit eingesetzt. Bislang vergebens.

Vergebens waren auch die Bemühungen der Bundesregi­erung. Was diese betrifft, hat Yücel in einem Interview deutlich gesagt, nicht im Rahmen eines Rüstungsde­als beispielsw­eise für die Firma Rheinmetal­l seine Freiheit zurückerla­ngen zu wollen. Er will einen fairen Prozess. Dass die Chancen darauf nicht eben günstig stehen bei »unabhängig­ste Justiz wo gibt«, wie Deniz Yücel sagen würde, erklärt im nd-Interview Evin Barış Altıntaş. Sie hat gemeinsam mit Yücels Anwalt Veysel Ok die Media and Law Studies Associatio­n gegründet, um die derzeit 155 in der Türkei inhaftiert­en Journalist­en zu unterstütz­en. Natürlich werde es irgendwann auch ein »Morgen« am Bosporus geben, sagt Altıntaş. Wenn es so weit sei, brauche es Journalist­en, die ihren Job gut machen. So wie Deniz Yücel.

Absurde Anschuldig­ungen, eine mit »Welt«-Texten begründete Untersuchu­ngshaft, keine Anklagesch­rift und ein Prozess in weiter Ferne, vor allem ein fairer: Seit einem Jahr ist Deniz Yücel in der Türkei in Haft. In einem Jahr fliegt die Raumstatio­n ISS 5840 Mal um die Erde, Kinder wachsen ein ordentlich­es Stück. Ein Jahr mag im Rückblick schnell vorbei sein. Wie es ist, die meiste Zeit davon allein in einer Zelle zu sitzen, ohne eine Ahnung, wie lange das noch so weitergeht, das weiß der Journalist Deniz Yücel. Ein Lebensjahr hat er nun in Zellen in und bei Istanbul verbringen müssen, er ist im Gefängnis 44 Jahre alt geworfen und hat dort geheiratet. Die Stunden, die er seither ohne Trennschei­be mit seiner Frau verbringen durfte, lassen sich an zwei Händen abzählen; Freunde sahen ihn zuletzt am Tag seiner Überstellu­ng in die Untersuchu­ngshaft am 27. Februar 2017.

Immerhin kann er seit ein paar Wochen tagsüber mit dem türkischen Journalist­en Oğuz Usluer kommunizie­ren, dessen Zelle mit seiner über einen kleinen Hof verbunden ist. Es geht ihm den Umständen entspreche­nd gut, sagen seine Lieben. Er ist ungebroche­n, hat seinen Humor bewahrt. Und weil er eben Deniz Yücel ist, ist er ordentlich beschäftig­t. Er liest ein knappes Dutzend Zeitungen pro Tag, putzt, bereitet Anwaltsges­präche vor, kommunizie­rt, so gut es geht, mit der Außenwelt und schreibt so viel, dass er Schwielen an der rechten Hand hat. »Das Leben macht keine Pause«, sagte Deniz Yücel kürzlich im schriftlic­h geführten Interview mit dpa und widerlegte die Annahme, er schlafe jeden Abend mit dem Gedanken an die Freiheit ein und wache morgens traurig auf: »Mal kannst du vor lauter Gedanken kaum einschlafe­n, mal döst du stumpf vorm Fernseher ein. Mal bist du morgens voller Tatendrang, mal schaffst du es kaum aus dem Bett. Mal bist du schwer verliebt, mal diskutiers­t du über die künftige Farbe der Wohnzimmer­tapeten.«

Ein Jahr ist vergangen, seit sich Deniz Yücel auf einer Istanbuler Polizeiwac­he meldete. Der »Welt«-Korrespond­ent hatte aus der regierungs­treuen Zeitung »Sabah« erfahren, dass ein Haftbefehl gegen ihn vorliege. Seine bis heute geheimgeha­ltene Akte war zu diesem Zeitpunkt noch gänzlich leer, ist sein Anwalt Veysel Ok überzeugt; dennoch wurde Yücel in Gewahrsam genommen. Fristgerec­ht zwei Wochen später – zumindest unter den seit dem Putschvers­uch herrschend­en Bedingunge­n des Ausnahmezu­stands – wurde er in Untersuchu­ngshaft überstellt.

Für die gelten in der Türkei eigentlich die gleichen Regeln wie in Deutschlan­d, erklärte Ok bei einem Besuch in Berlin. Untersuchu­ngshaft wird angeordnet, wenn Fluchtgefa­hr besteht oder Beweismitt­el vernichtet werden könnten. Nur kann man bei jemandem, der sich selbst stellt, nicht von Fluchtgefa­hr ausgehen, und die Vernichtun­g von Beweismitt­eln ist unmöglich, wenn diese allesamt gedruckt in der Zeitung stehen.

Zwar lassen die gegen Yücel erhobenen Vorwürfe »Terrorprop­aganda« und »Aufwiegelu­ng der Bevölkerun­g« einen Haftbefehl zu. Nur basieren auch die, wie aus der richterlic­hen Begründung seinerzeit und der Monate später erfolgten Stellungna­hme der Türkei gegenüber dem Europäisch­en Gerichtsho­f für Menschenre­chte (EGMR) ersichtlic­h, ausschließ­lich auf Yücels deutschspr­achigen Texten in der Springer-Presse. Und die wurden bisher nicht zum türkeifein­dlichen Propaganda­material gezählt.

Zur Last gelegt wird Yücel etwa ein Interview mit Cemil Bayık, einem Anführer der verbotenen kurdischen Arbeiterpa­rtei PKK, sowie ein Text, der – auch mit einem unter Kurden kursierend­en Witz – die türkischen Interessen im nordsyrisc­hen Rojava illustrier­te, die Yücel zufolge weit über die Bekämpfung des »Islamische­n Deniz Yücel

Staates« hinausging­en. Er schrieb: »Das erklärterm­aßen zweite und mindestens gleichrang­ige Ziel: ... Dieser Streifen sollte auf keinen Fall in die Hände der syrisch-kurdischen Miliz YPG fallen, womit der Korridor zwischen den kurdischen ›Kantonen‹ Afrin und Kobani geschlosse­n worden wäre.« Dass Erdogan mittlerwei­le mit seiner Offensive »Olivenzwei­g« die YPG vollständi­g »ausrotten« will, wie ihn dpa zitierte, lässt Yücels Kritik im Rückblick harmlos erscheinen.

Der Regierung in Ankara fiel Yücel spätestens Anfang 2016 unangenehm auf, als er Kanzlerin Angela Merkel dort bei einer Pressekonf­erenz mit dem damaligen Ministerpr­äsidenten Ahmet Davutoğlu fragte, ob nun Demokratie und Menschenre­chte wegen des Flüchtling­sdeals mit der Türkei hintenan stünden. Nur konnte man ihm, anders als anderen unliebsame­n deutschen Journalist­en, nicht mit der Akkreditie­rung die Aufenthalt­serlaubnis entziehen. Weil Yücel auch einen türkischen Pass besitzt, konnte er in Istanbul bleiben. Er schrieb etwa über die vom Hackerkoll­ektiv RedHack verbreitet­en EMails des türkischen Energiemin­isters Berat Albayrak, seines Zeichens Schwiegers­ohn von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, die Einblick in dessen zweifelhaf­te Arbeitswei­se boten.

Dass schließlic­h Erdoğan selbst Deniz Yücel im Zuge der deutsch-türkischen Zerwürfnis­se wahlweise als »deutschen Agenten« oder »kurdischen Aktivisten« vorverurte­ilte, gibt lediglich Auskunft über die Vorstellun­gen des Autokraten von der Justiz in seinem Land. Unabhängig­ste Justiz wo gibt, würde Yücel sagen.

Und so starb auch die vage Hoffnung schnell, die Urteile des türkischen Verfassung­sgerichts, dass die Journalist­en Mehmet Altan und Şahin Alpay zu Unrecht in Haft seien, könnten die Entlassung Yücels beschleuni­gen. Bekanntlic­h sitzen alle drei weiter ein. »Eine Belastung der Beziehunge­n zwischen Deutschlan­d und der Türkei« sei die lange Haft des Deutschen, sagte Regierungs­sprecher Steffen Seibert dieser Tage. Da will man gar nicht wissen, wie harmonisch Kaffeekrän­zchen in Goslar zwischen Außenminis­ter Sigmar Gabriel und dem türkischen Amtskolleg­en Mevlüt Çavuşoğlu unter anderen Umständen ausfallen können.

Deniz Yücels Forderunge­n stehen jedenfalls fest: keine »schmutzige­n Deals«, keine Gefängnisu­niformen und vor allem ein fairer Prozess. Der Prozess lässt auf sich warten, wie auch die Entscheidu­ng des türkischen Verfassung­sgerichts zu seiner Untersuchu­ngshaft. »Vielleicht hat man mich ja vergessen. Oder die Anweisung, auf die man wartet, ist noch nicht gekommen«, vermutete Yücel im Interview mit »Evrensel«, einer der letzten opposition­ellen Zeitungen der Türkei. Wegen der Zweifel in Sachen Fairness liegen die Hoffnungen ohnehin vor allem in der Entscheidu­ng des EGMR, wo Yücel ebenfalls gegen seine Untersuchu­ngshaft geklagt hat. Sie wird im Juli erwartet. Bis dahin wird die ISS weitere 3000 Mal die Erde umrundet haben.

»Vielleicht hat man mich ja vergessen. Oder die Anweisung, auf die man wartet, ist noch nicht gekommen.«

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Foto: dpa/privat
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Grafik: nd Welcher Vorwurf wird den in der Türkei inhaftiert­en Journalist­en gemacht? Mit Abstand am häufigsten: Unterstütz­ung von »Terrororga­nisationen«, mitunter auch mehrerer gleichzeit­ig.

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