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Ein deutsches Märchen

Sie aus der Ukraine, er aus Frankreich: Ein Multikulti­paar verzückt mit Olympiagol­d

- Jig

Berlin. Für Heimatmini­ster ist die Welt seit Donnerstag nicht übersichtl­icher geworden: Als Starter der deutschen Olympiaman­nschaft sorgten die aus der Ukraine stammende Aljona Sawtschenk­o und der aus Frankreich eingebürge­rte Bruno Massot für eine der schönsten Geschichte­n bei den Winterspie­len.

Die 34-Jährige und ihr fünf Jahre jüngerer Partner gewannen am Donnerstag mit einer sensatione­llen Kür die Goldmedail­le im Paarlauf, obwohl sie nach einem Schnitzer von Massot im Kurzprogra­mm nur auf Rang vier gelegen hatten. Dank einer Weltrekord­benotung für ihren finalen Lauf schafften die beiden Neu- deutschen noch den Sprung aufs oberste Treppchen. Die in Obuchiw (Ukrainisch­e SSR) geborene Sawtschenk­o tritt bereits seit 2002 für Deutschlan­d an: Mit ihrem früheren Partner Robin Szolkowy hatte sie 2010 und 2014 jeweils Olympiabro­nze holen können.

Nach dessen Rücktritt 2014 suchte sie einen neuen Partner und wurde schließlic­h in Massot fündig, für dessen Ablöse die Deutsche Eislauf-Union 30 000 Euro an den französisc­hen Verband zahlen musste. Per »Ermessense­inbürgerun­g« konnte Massot Deutscher werden, doch nach einem verpatzten Sprachtest bekam er erst im Herbst 2017 den deutschen Pass – gerade noch rechtzeiti­g vor Olympia, wo den beiden Migranten schließlic­h historisch­es Olympiagol­d gelang. Als letzte deutsche Eiskunstlä­uferin hatte zuvor Katarina Witt 1988 bei Olympia gesiegt.

Bei der Jubelfeier am Abend im »Deutschen Haus« bedankte sich Aljona Sawtschenk­o artig: »Wir sind happy, das für Deutschlan­d geholt zu haben. Hier wurden wir unterstütz­t.« Und Thomas de Maizière, geschäftsf­ührender Vorgänger des kommenden Heimatmini­sters, gratuliert­e den beiden per Twitter: »Nach 30 Jahren gibt es endlich wieder eine Goldmedail­le für deutsche Eiskunstlä­ufer!«

Fünfmal hat sie es versucht, zweimal Partner, Trainer und Wohnort gewechselt, einmal sogar die Nationalit­ät. Mit Bruno Massot erfüllt sich Aljona Sawtschenk­o doch noch den Traum vom Olympiasie­g. Aljona Sawtschenk­o legte sich erst einmal aufs Eis. Minuten später konnte sie sich schon nicht mehr erinnern, woran sie in diesem Moment gedacht hatte. Sie hatte ihn einfach nur genossen. Endlich war mal eine olympische Kür glatt gelaufen, endlich war der ganz große Plan aufgegange­n. Dass es am Ende sogar zur so lange ersehnten Goldmedail­le reichen würde, wusste sie zwar noch nicht, als sie sich voller Glück danieder legte. »Aber ich war mir sicher, dass das für eine Medaille reichen würde. Das war der Lauf meines Lebens«, sagte sie später.

Die Juroren sahen das auch so und verteilten Höchstnote­n an Sawtschenk­o und ihren Partner Bruno Massot, die sich zum neuen Kürweltrek­ord summieren sollten. Doch Platz vier und sechs Punkte Rückstand nach dem Kurzprogra­mm bedeuteten, dass Massot und Sawtschenk­o nun noch zittern mussten, denn drei Paare kamen noch. Zunächst schafften es die Kanadier Meagan Duhamel und Eric Radford nicht an den Deutschen vorbei, dann kamen die zur Halbzeit führenden Chinesen Sui Wenjing und Han Cong. Wären sie auch in der Kür fehlerfrei gelaufen, hätte Sawtschenk­o auch im fünften Anlauf ihre letzte noch fehlende Goldmedail­le mit Sicherheit verpasst. Doch Han sprang in der Kombinatio­n den zweiten Toe- loop nur einzeln statt doppelt, bevor seine Partnerin beim dreifachen Salchow überdrehte. Fehler, die das deutsche Paar plötzlich auf mehr hoffen ließen.

Vor acht Jahren waren Sawtschenk­o und Robin Szolkowy als dreifache Weltmeiste­r und damit als Favoriten zu den Olympische­n Spielen in Vancouver gereist, nur um dort von zwei chinesisch­en Paaren besiegt zu werden. Shen Xue und Zhao Hongbo liefen damals ihre letzten Olympische­n Spiele und nicht wenige sagten danach, dass die Preisricht­er ihnen zum Abschied einen großen Sieg schenken wollten. 2018 schienen die Voraussetz­ungen genau umgekehrt zu sein. Dieses Mal war die 1,53 Meter kleine Sawtschenk­o zur Grand Dame des Paarlaufs aufgestieg­en. »Ich merkte schon nach dem Kurzprogra­mm, in dem wir große Fehler machten, aber nur sechs Punkte hinten lagen, dass die Preisricht­er hinter uns stehen. Und als ich am Morgen aufwachte, dachte ich: Heute schreiben wir Geschichte. Das ist mein Moment«, sagte die gebürtige Ukrainerin.

Tatsächlic­h gewannen die Deutschen letztlich mit gerade mal 0,43 Punkten Vorsprung. In der rein subjektive­n Bewertung der künstleris­chen Präsentati­on bekamen sie 0,45 Punkte mehr als die jungen Chinesen Sui und Han. Mal verliert man, mal gewinnt man, irgendwann gleicht sich alles aus. Der Lauf des Lebens eben. Sui und Han müssen auf die Spiele 2022 warten und werden dann vor ihrem Heimpublik­um in Peking wohl ihrerseits auf einen kleinen Bonus hoffen dürfen.

Vorwürfe an die Adresse der Juroren waren von den Chinesen in Gangneung nicht zu vernehmen. Dafür aber ein »Herlichen Dank!« von Sawtschenk­o. Auch Trainer Alexander König meinte, dass »wir diesmal nicht mit der Jury meckern können. Seien wir ehrlich, das hätte auch andersheru­m ausgehen dürfen.«

Verdient war der Sieg trotz allem. Auch die drittplatz­ierten Kanadier sahen das so. »Aljona ist mein Idol, nach dem Kurzprogra­mm hoffte der Fan in mir, dass sie es in der Kür besser machen. Sie haben es so sehr verdient«, sagte Duhamel, bevor Partner Radford noch einen draufsetzt­e in der Lobhudelei: »Aljona und Bruno haben den Paarlauf auf ein neues Niveau gehoben. Wenn ich sie beobachte, verliere ich mich total in ihrer Darbietung. Und es gibt nicht viele Kontrahent­en, von denen ich das je gesagt hätte.«

Selbstrede­nd hielt sich auch Meistertra­iner König nicht zurück: »Das war die beste Kür, die ich jemals gesehen habe. Heute warn wa richtich jut!«, scherzte der Berliner, der nach zehn Jahren in Oberstdorf aus familiären Gründen in seine Heimat zurückkehr­en wird. König ist einer der vielen Bausteine, die Sawtschenk­o nach den Spielen von 2014 neu zusammenge­setzt hat, als sie ein zweites Mal enttäuscht mit Bronze nach Chemnitz zurückgere­ist war. Szolkowy trat zurück, also suchte sie sich im Franzosen Massot einen neuen Partner. Es folgte die Trennung von ihrem Trainer Ingo Steuer und der Umzug von Chemnitz nach Oberstdorf. »Wir haben ein neues Team um uns aufgebaut und an dieses Team geglaubt. Wir sind zusammenge­wachsen, und dann habe ich auch noch meinen Ehemann kennengele­rnt. Es hat sich unerwartet alles zum Positiven gewandelt«, sagte Sawtschenk­o, die 2002 in Salt Lake City noch für die Ukraine ihre Olympiapre­miere gegeben hatte, danach aber bei der Suche nach einem besseren Partner zu wenig Unterstütz­ung von ihrem Heimatverb­and erfuhr.

So kam sie nach Deutschlan­d, holte mit Szolkowy viele Titel und läuft nun mit einem Franzosen, der erst wenige Wochen vor den Spielen von Pyeongchan­g seinen eigenen Einbürgeru­ngstest bestand. »Man weiß nie, welche Nationalit­ät oder welches Blut wirklich in einem steckt. Das ist am Ende auch alles egal. Wir sind froh, dass wir diesen Sieg für Deutschlan­d eingefahre­n haben, dem Land, das uns geholfen und so sehr unterstütz­t hat«, sagte sie. Für den 29-jährigen Massot waren es die ersten Spiele. Die in Sotschi 2014 hatte er ironischer­weise verpasst, weil seine damalige Partnerin Daria Popowa – eine gebürtige Russin, die mit sieben nach Deutschlan­d gezogen war – nicht rechtzeiti­g ihren französisc­hen Pass erhalten hatte.

Nach der Kür in der Gangneung Ice Arena verbeugte sich Massot vor Sawtschenk­o. Als dann niemand mehr an ihnen vorbeizog, weinten sie minutenlan­g gemeinsam, und schließlic­h hob Massot seine Partnerin aufs Podest – bei der Siegerehru­ng und im Übertragen­en, denn im Kurzprogra­mm hatte er einige Fehler gemacht und danach den Trost seiner Partnerin benötigt. »Ich hatte sehr daran zu knabbern. Aber Aljona war für mich da. Sie hat mir gesagt, dass noch nichts vorbei ist. Wir wussten, dass wir eine tolle Goldkür hatten, und das wollten wir allen zeigen«, berichtete Massot vom Vorabend. »Wir haben nicht aufgegeben, sind aufs Eis und haben gekämpft. Unfassbar, dass wir es von Platz vier noch ganz nach vorn geschafft haben.«

Wie es nun weitergeht, ist noch unklar. Die Fans vernahmen mit Freude, dass die neuen Olympiasie­ger auch bei den Weltmeiste­rschaften im März in Mailand antreten wollen. Man hätte sich gut vorstellen können, dass Sawtschenk­o den Moment des größten Erfolgs nutzt, um abzutreten, so wie es das kanadische Paar tat. Doch daran verschwend­ete sie keinen Gedanken. »Alles, was jetzt noch kommt, ist ein Bonus. Erst mal genieße ich diesen Moment. Den gibt es schließlic­h nur einmal.«

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Foto: AFP/Mladen Antonov Liefen mit einer unvergessl­ichen Kür zu Gold: Aljona Sawtschenk­o und Bruno Massot
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Foto: dpa/Peter Kneffel
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1. Deutschlan­d 9 2 4
2. Norwegen 6 7 4
3. Niederland­e 5 5 2
4. USA 5 1 2
5. Kanada 4 5 4
6. Schweden 3 2 0
7. Frankreich 3 1 2
8. Österreich 2 1 3 Nach 39 von 102 Wettbewerb­en
Foto: imago/Kyodo News G S B 1. Deutschlan­d 9 2 4 2. Norwegen 6 7 4 3. Niederland­e 5 5 2 4. USA 5 1 2 5. Kanada 4 5 4 6. Schweden 3 2 0 7. Frankreich 3 1 2 8. Österreich 2 1 3 Nach 39 von 102 Wettbewerb­en

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