Mutiger Grande
»Am Ende stellt sich die Frage: Was hast du aus deinem Leben gemacht? Was du dann wünschst, getan zu haben, das tue jetzt.« Diese Erkenntnis des Erasmus von Rotterdam hat sich der 80-jährige Miguel Castillo zu Herzen genommen. Der Spanier reist nächste Woche ins italienische Verona, um an der dortigen Universität Geschichte zu studieren – als Erasmus-Student, wie das Nachrichtenportal »Euroaktiv« vermeldete.
Als der Rat der Europäischen Union 1987 sein Förderprogramm für Auslandsstudien ins Leben rief, hat man in Brüssel durchaus die Assoziation zum allseits gebildeten Humanisten der Renaissance anvisiert. Der EUErasmus, von dem bis heute neun Millionen Wissbegierige profitierten, ist indes ein Akronym des Wortungeheuers »European Region Action Scheme for the Mobility of University Students«. Die Stipendien sollen nicht nur jungen Leuten zu Gute kommen. Sie sollen »lebenslanges Lernen« befördern. Was allseits interessierte, aufgeschlossene Zeitgenossen als selbstverständlich ansehen. Was indes auch Kritiker gefunden hat, die das Motto als einen Euphemismus für Zwangsweiterbildung empfinden. Und dies nicht zu Unrecht – in Anbetracht des stetige Mobilität und Flexibilität einfordernden, zunehmend inhumaner werdenden, aggressiv alle menschlichen Ressourcen aussaugenden kapitalistischen Sys- tems und des mit gesellschaftlichem Druck oktroyierten Optimierungswahns. Das trifft jedoch nicht auf unseren munteren spanischen Granden zu. Aus freiem Willen begibt er sich in die Stadt von Romeo und Julia.
Nach seiner Pensionierung hatte der Notar einen Herzinfarkt erlitten und musste sich einer vierfachen Bypass-Operation unterziehen. Kurz nach der Genesung sagte er sich: »Ich möchte nicht nur Rentnerkram machen.« Der Altersunterschied zu seinen Kommilitonen irritiert ihn nicht. Er rät Altersgenossen, »nicht zu Hause zu bleiben, sondern sich der Welt zu öffnen. Wir haben der Welt viel zu bieten und können auch noch eine Menge lernen.« Castillos Wissensdrang und Weltneugier hätte dem alten Erasmus gefallen.