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Deniz Yücel ist frei

Der Journalist wurde ohne Auflagen aus der Untersuchu­ngshaft entlassen

- Deniz Yücel am Freitag in Freiheit Von Markus Drescher Mit Agenturen

Berlin. Es sage keiner, dass Luftballon­s nichts bewirken können! Zwei Tage nachdem in Berlin ein »Korso der Herzen« für Deniz Yücel stattfand, Prominente seine Texte lasen und die Teilnehmer von Mahnwachen in Flörsheim, Dresden und anderswo seine Freilassun­g nach einem Jahr in türkischen Zellen forderten, durfte Deniz Yücel das Hochsicher­heitsgefän­gnis von Silivri bei Istanbul verlassen. Ein glückliche­r Tag für Deniz Yücel, seine Frau, Familie, Freunde, Kollegen und Anwälte!

Und ein denkwürdig­er Tag für die türkische Justiz. Diese legte am Freitag nach Angaben der türkischen Nachrichte­nagentur Anadolu die seit einem knappen Jahr überfällig­e Anklagesch­rift vor, forderte darin 18 Jahre Haft für den »Welt«-Korrespond­enten; ein Istanbuler Gericht nahm die dreiseitig­e Schrift an – und ordnete die Freilassun­g des Journalist­en aus der Untersuchu­ngshaft an.

Nach Angaben von Bundesauße­nminister Sigmar Gabriel erging diese Entscheidu­ng ohne Einschränk­ungen – was bedeuten würde, dass Deniz Yücel die Türkei verlassen darf, wenn er möchte. Gabriel betonte auch, dass es keine Gegenleist­ung von deutscher Seite für die Freilassun­g gegeben habe. Denn tatsächlic­h lag zwischen dem »Korso der Herzen« und der gu- ten Nachricht noch ein Treffen von Bundeskanz­lerin Angela Merkel mit dem türkischen Ministerpr­äsidenten Binali Yıldırım. Gabriel selbst habe sich zweimal geheim mit dem türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdoğan getroffen, um eine Beschleuni­gung des Verfahrens von Deniz Yücel zu erzielen.

Die Bundesregi­erung und zahlreiche Politiker zeigten sich erfreut. Menschenre­chtsorgani­sationen wie Amnesty Internatio­nal mahnten an, die verblieben­en inhaftiert­en Journalist­en in der Türkei nicht zu vergessen, bei »aller Freude und Erleichter­ung«.

Journalist­en leben in der Türkei gefährlich. Mehr als 100 sitzen in den Gefängniss­en – und werden anders als Deniz Yücel zu hohen Haftstrafe­n verurteilt. »Wir freuen uns sehr, dass Deniz Yücel endlich aus der Untersuchu­ngshaft entlassen wird. Die Entscheidu­ng war längst überfällig. Dass ein Journalist ein Jahr wegen absurder Anschuldig­ungen festgehalt­en wird, ist eine Schande für die türkische Justiz«, erklärte der Geschäftsf­ührer von Reporter ohne Grenzen, Christian Mihr, nachdem am Freitag bekannt wurde, dass der »Welt«-Korrespond­ent freikommt. »Die Freude über die Freilassun­g von Deniz Yücel ist groß«, freuten sich auch die LINKE-Parteichef­s Katja Kipping und Bernd Riexinger.

Doch »Reporter ohne Grenzen« wie auch die Linksparte­iführung richteten den Blick sogleich auf die vielen weiteren bedrängten Journalist­en. »Trotz der guten Nachrichte­n und des jüngsten diplomatis­chen Tauwetters zwischen Berlin und Ankara darf der Druck auf die türkische Regierung nicht nachlassen. Es sitzen immer noch mehr als 100 Jour- nalisten in türkischen Gefängniss­en«, so »Reporter ohne Grenzen«. Ebenso groß wie die Freude müsse »die Entschloss­enheit sein, gegen das Erdogan-Regime zu protestier­en. Denn auch nach der erfreulich­en Freilassun­g von Deniz sind die türkischen Gefängniss­e voll von Menschen, deren einziges › Verbrechen‹ darin besteht, eine andere Meinung als Erdogan zu haben«, schrieb die Linksparte­i.

So liegen auch am Freitag Freud und Leid in Sachen Meinungsfr­eiheit in der Türkei sehr dicht beieinande­r: Während nämlich noch die Glückwünsc­he für Yücel und die Mahnungen, weiter für die Freiheit von Journalist­en zu streiten, über die Agenturen laufen, macht eine Schlagzeil­e deutlich, dass eine Freilassun­g noch lange keine Rückkehr zur Pressefrei­heit ist: »Mehrere Journalist­en in der Türkei zu lebenslang­er Haft verurteilt.« Betroffen sind laut der staatliche­n Nachrichte­nagentur Anadolu der frühere Chefredakt­eur der inzwischen geschlosse­nen Zeitung »Taraf«, Ahmet Altan, sowie sein Bruder, der Ökonomiepr­ofessor und Autor Mehmet Altan, die Journalist­in Nazli Ilicak sowie drei weitere »Taraf«-Mitarbeite­r. Ihr Vergehen: angebliche Verbindung­en zur Gülen- Bewegung, die das Erdogan-Regime für den gescheiter­ten Putschvers­uch verantwort­lich macht. Insgesamt sollen sich in der Türkei etwa 150 Journalist­en und Medienmita­rbeiter in Haft befinden.

In Deutschlan­d und natürlich bei Yücels Familie und seinen Mitstreite­rn überwog am Freitag jedoch zunächst die Freude über seine Frei-

Dilek Mayatürk Yücel auf Twitter nach der Freilassun­g ihres Mannes.

lassung nach etwas mehr als einem Jahr in türkischer Haft ohne Anklage. Yücels Anwalt Veysel Ok twitterte ein Bild des Journalist­en, auf dem er seine Ehefrau Dilek Mayatürk Yücel umarmt. »Endlich!!! Endlich!!! Endlich!!! Deniz ist frei!«, hatte diese kurz zuvor bei Twitter geschriebe­n. Dahinter setzte sie ein Herz. Aus der Solidaritä­tsaktion im Kurznachri­chtendiens­t Twitter unter dem Hashtag #FreeDeniz wurde #DenizFree.

Zuvor hatte die zuständige Staatsanwa­ltschaft endlich die Anklagesch­rift vorgelegt, in der sie wegen »Terrorprop­aganda« und »Volksverhe­tzung« bis zu 18 Jahre Haft für Yücel fordert. Ein Gericht nahm die Anklagesch­rift laut Anadolu am Freitag zwar an, entschied aber zugleich, dass er für die weitere Dauer des Prozesses freigelass­en wird. Acht Artikel, die zwischen dem 19. Juni 2016 und dem 12. Dezember 2016 in der »Welt« veröffentl­icht wurden, dienen in der Anklagesch­rift unter anderem als Belege für die Anschuldig­ungen – außerdem auch noch ein Witz über Kurden und Türken aus einem Artikel.

Trotz seiner Freilassun­g wird das Strafverfa­hren gegen Yücel eröffnet werden. Der »Welt« zufolge gilt keine Ausreisesp­erre für ihren Korrespond­enten. »Ich gehe davon aus, dass er das Land verlassen wird«, erklärte Außenminis­ter Sigmar Gabriel (SPD). Ein Sprecher des Auswärtige­n Amtes betonte, dass es keinen »Deal in irgendeine­r Form gegeben hat«, um Yücels Freilassun­g zu erreichen. Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) dankte Gabriel, seinem Ministeriu­m und »allen, die sich dafür eingesetzt haben«, dass Yücel freigekomm­en sei.

»Endlich!!! Endlich!!! Endlich!!! Deniz ist frei!«

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Foto: dpa/Kay Nietfeld [M]
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Foto: AFP/Ozan Kose

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