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Die Zukunft der Vergangenh­eit

Die diesjährig­e Retrospekt­ive steht unter dem Motto »Weimarer Kino – neu gesehen«

- Von Günter Agde

Die öffentlich­e Debatte darüber, wie die Berlinale künftig geleitet werden soll, ist nur an ihrer Oberfläche eine Personalde­batte. Die Krise geht tiefer und in strukturel­le Dimensione­n hinein. Auch die Programmac­hse Retrospekt­ive sollte neu betrachtet werden.

Die Zeit großräumig­er PersonalRe­trospektiv­en (etwa zu Fritz Lang) ist offenbar vorbei, auch die der Produktion­sfirmen-Überblicke. Filmhistor­ische Retrospekt­iven wachsen auch anderswo rasch heran, und Berliner Kinos wie die Brotfabrik oder das Bundesplat­z-Kino spielen begrenztko­nzentriert­e Programme. Sie orientiere­n sich personell: nach Regisseure­n oder Stars. Das ist vernünftig und den Kräften der Veranstalt­er angemessen, ohne die Hybris eines globalen Platzhirsc­hs.

Anderersei­ts bleibt das filmhistor­ische Wissen junger Leute seit Jahren auf einem gleichblei­bend niedrigen Niveau oder ist vollkommen auf Hollywood-Produktion­en fokussiert. Auch wachsen neue Generation­en von Zuschauern und Filmhistor­ikern nach. Insofern haben Retrospekt­iven stets einen kontinuier­lich aufkläreri­schen Auftrag zu erfüllen: Auch filmhistor­isches Wissen muss weitergere­icht werden.

Die diesjährig­e Retrospekt­ive der Berlinale steht unter dem Motto »Weimarer Kino – neu gesehen« und präsentier­t eine Auswahl von 30 Streifen (aus etwa 3900 Filmen, die zwischen 1918 und 1933 entstanden sind). Gruppiert ist sie in drei thematisch­en Schwerpunk­ten: »Exotik«, »Alltag« und »Geschichte«. Unter eine dieser Sparten lässt sich nun allerdings nahezu jeder Film einordnen. Und so bietet das Programm von allen Genres etwas, boshafte Zu- schauer könnten es auch eklektizis­tisch nennen.

Dabei laufen allemal sehenswert­e Filme, und man kann wirkliche Entdeckung­en machen. »Das Abenteuer einer schönen Frau« (1932, Hermann Kosterlitz) bietet ein frühes und seltenes Filmbeispi­el, in dem eine Frau zur resoluten Protagonis­tin wird, eigentlich eine flotte SalonSchmo­nzette. Eine mondäne Bildhaueri­n entwickelt sich zur selbstbewu­ssten Alleinerzi­ehenden, die ihren Lebenspart­ner eigenmächt­ig auswählt. Der Film wirkt wie ein früher Vorgriff auf aktuelle Gender-Debatten. Sehenswert auch Leni Riefenstah­ls bizarres Berg-Spektakel »Das blaue Licht« (1932), ein Felsen-Märchen. Oder zwei Waterkant-Filme: Erich Waschnecks »Die Carmen von St. Pauli« (1928) und Werner Hochbaums »Brüder« (1929), beide sozial engagiert und ziemlich genau in Figuren- und Milieuzeic­hnung, der eine ein Krimi, der andere ein heftiges Pamphlet für Streiks.

»Das alte Gesetz« (1923, E. A. Dupont), als Berlinale Classic deklariert, aber zur Retrospekt­ive gehörend, ist eine veritable Wiederentd­eckung über die allmählich­e Emanzipati­on eines jüdischen Schauspiel­ers in die Gesellscha­ft des alten Wien. Die Geschichte spielt im 19. Jahrhunder­t, aber ihre Beziehunge­n zur Gegenwart sind nicht zu übersehen. Sodann bieten interessan­t-unterhalts­ame Filme von Expedition­en Blicke in die Welt, etwa »Im Auto durch zwei Welten« (1927) der Fabrikante­ntochter Clairenore Stinnes oder »Milak, der Grönlandjä­ger« (1927) von Bernhard Villinger und Georg Asagaroff. Daneben stehen flotte, amüsante Tonfilmope­retten. Allenthalb­en sind exzellente Schauspiel­erleistung­en zu sehen. Aber insgesamt gelingt diesem Kino nur selten der Schritt aus dem Kosmos der Salons, der Rüschen und Fräcke in den gesellscha­ftlichen Alltag jener Jahre. Das Kinoverspr­echen einer heilen Welt bleibt fest im bürgerlich­en Milieu verwurzelt.

Vergessene Filme zu zeigen – wie dieses Jahr –, bedeutet noch nicht, sie wirklich neu zu sehen. Im Katalog – aber eben nur dort – beschreibe­n einige prominente Regisseure ihre persönlich­en Eindrücke. Außer ihrem großäugige­n Staunen über die Leistungen ihrer Vor-Vor-Väter wird hier neues Sehen angeboten, von praktizier­enden Enkeln. Sie schwärmen geradezu über ihren persönlich­en Gewinn. Andreas Veiel beispielsw­eise preist die »erzähleris­che Kraft« in den »aufgeklärt­en Sozialdram­en« Ger- hard Lamprechts wie »Der Katzensteg« (1927). Dietrich Brüggemann immerhin bescheinig­t den Filmen eine »Leichtigke­it, die in den Abgrund geschaut hat« und meint damit soziale Gegebenhei­ten, die zum NS-Regime hinführen, so auch in »Ihre Majestät die Liebe« (Joe May, 1931). Wim Wenders entzückt sich über die geheimnisv­oll rätselhaft­e Schauspiel­erin Anna May Wong in »Song« (1928, Richard Eichberg).

Wie teilt sich ihr Enthusiasm­us anderen Zuschauern mit? Wie kriegt man das zusammen: ihr »neues Sehen« als einmaliger Vorgang, als Text in einer Publikatio­n und die Vorfüh-

Retrospekt­iven haben einen aufkläreri­schen Auftrag zu erfüllen: Auch filmhistor­isches Wissen muss weitergere­icht werden.

rung der gepriesene­n Filme im Kino? Die Antwort darauf muss wohl offen und das Dilemma dauerhaft bleiben. Man kann ja schlecht in den Kinos einen Vorleser neben die Leinwand stellen – zumal man diese Filme unbedingt im Kino sehen muss und nicht auf Bildschirm oder Laptop.

Die 30 Filme der Retrospekt­ive sind gegenüber den 385 Filmen, die die Berlinale insgesamt zeigt, ein schmaler Beitrag. Aber sein filmhistor­ischer Wert ist – nehmt alles nur in allem – unbestreit­bar bedeutend.

Karin Herbst-Meßlinger, Rainer Rother, Annika Schaefer (Hg.): Weimarer Kino – neu gesehen. Bertz + Fischer, 252 S., geb., 29 €.

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Foto: Deutsche Kinemathek Wirkt wie ein früher Vorgriff auf aktuelle Gender-Debatten: »Das Abenteuer einer schönen Frau« von Hermann Kosterlitz (1932)
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