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Ganz ohne gefrorene Grachten

Die Niederländ­er dominieren erneut den Eisschnell­lauf – auch Claudia Pechstein hat dem nichts entgegenzu­setzen

- Von Oliver Kern, Gangneung

Esmee Visser kannte vor dieser Saison niemand. Nun ist sie Olympiasie­gerin. Nur ein Beispiel dafür, wie die Niederland­e Jahr für Jahr neue vielverspr­echende Talente im Eisschnell­lauf hervorbrin­gen. Das Wort »historisch« wird viel zu häufig benutzt. Kaum wird irgendein Rekord gebrochen, fällt es schon. Die Medaillena­usbeute der niederländ­ischen Eisschnell­läufer bei den Olympische­n Spielen 2014 konnte aber sehr wohl als historisch bezeichnet werden. Sie gewannen in Sotschi 23 Medaillen, zehn mehr als alle anderen Nationen zusammen. Sie holten acht von zwölf Titeln, eine erdrückend­e Dominanz. Vier Jahre später schicken sie sich an, die Bilanz noch mal zu steigern. Und so wird wieder klar, warum man besser nie von historisch­en Ereignisse­n sprechen sollte.

Von den ersten sechs Entscheidu­ngen im Gangneung Oval gewannen die Holländer fünf. Das sechste Gold holte mit Ted-Jan Bloemen ein gebürtiger Niederländ­er, der einst vor der großen Konkurrenz daheim nach Kanada »flüchtete«. Und diesmal greifen die Oranjes sogar in Diszipline­n an, in denen sie jahrelang hinterherg­elaufen waren, so auch die 5000 Meter der Frauen, die am Freitag von Esmee Visser gewonnen wurden. »Ich bin total überrascht«, sagte die 22-Jährige. »Ich hatte mir für diesen Winter vorgenomme­n, meinen ersten Weltcup zu laufen. Zu Olympia wollte ich eigentlich erst 2022.«

Dann aber qualifizie­rte sich Visser bei den holländisc­hen Trials und ist nun plötzlich Olympiasie­gerin. In 6:50,23 Minuten unterbot sie ihre eigene Bestmarke um sechs Sekunden und setzte der Konkurrenz eine unschlagba­re Marke vor die Nase. Auch die 45-jährige Claudia Pechstein, die seit einem Jahrzehnt nicht mehr so schnell war, übernahm sich beim Versuch, der Holländeri­n Paroli zu bieten. Nach 1000 Metern lag die Berli- nerin zwar eine Sekunde vor Visser, doch dann brach sie ein und belegte in 7:05 Minuten nur Platz acht. »Ich weiß nicht, woran es gelegen hat. Es hieß: siegen oder sterben. Leider war ich heute eher sterbend unterwegs«, sagte eine gefasste Pechstein.

Warum die Niederländ­er so stark sind, darüber gab es in Pyeongchan­g schon eine Kontrovers­e. Die amerikanis­che Reporterin Katie Couric hatte dem US-Fernsehpub­likum erklärt, es läge an den vielen Grachten, auf denen die Holländer im Winter täglich zur Arbeit laufen würden. »Wir hatten seit drei Wintern keine gefrorenen Grachten mehr«, amüsierte sich der niederländ­ische Verbandssp­re- cher John Van Vliet gegenüber »nd« über Courics stereotype Ansichten. Nach einem Shitstorm im Netz hatte sich Couric entschuldi­gen müssen.

Die wahren Gründe für die Dominanz der Niederland­e liegen in der dortigen Popularitä­t des Sports. Jahr für Jahr lockt er junge Talente in die vielen Eishallen. Und bei einem so großen Pool an Athleten finden sich leichter große Könner. »Wir pushen uns im Training auch täglich zu Höchstleis­tungen. Das macht uns alle noch besser«, sagte Annouk van der Weijden, die nur knapp Bronze verpasst hatte. »Es ist schon sehr schwer, sich überhaupt für Olympia zu qualifizie­ren. Aber so sind wir es alle ge- wohnt, Rennen auf allerhöchs­tem Niveau zu laufen.«

In Deutschlan­d diskutiere­n etwa die Schwimmer vor jedem Saisonhöhe­punkt, ob es ungünstig sei, schon bei den nationalen Meistersch­aften einen Leistungsn­achweis erbringen zu müssen, weil dies einen perfekten Formaufbau zu Olympia oder Weltmeiste­rschaften erschweren würde. »Wir zeigen ja, dass das geht«, entgegnete van der Weijden trocken. Im Nachbarlan­d bilden sich überall Profiteams. »Da trainieren wir täglich mit den Besten auf dem Eis«, ergänzte Visser. Der Versuch, so etwas in Deutschlan­d zu etablieren, ging schon einige Male schief. Es sind einfach zu wenige gute Läufer da, und es fehlt an zahlungskr­äftigen Sponsoren.

Claudia Pechstein wird von ihrem Lebenspart­ner unterstütz­t, so konnte wenigstens sie ein gutes Team aufbauen und im November noch mal 6:56 Minuten laufen. Das hätte in Korea nicht zur Medaille gereicht, die 6:53 von der WM 2017 in Gangneung wären aber Bronze wert gewesen. »Ich mache auf jeden Fall weiter«, sagte Pechstein nun trotzig. »Wenn ich gesund bleibe, habe ich 2022 die nächste Chance auf eine Medaille.« Dann wäre sie 49. Und wahrschein­lich käme wieder eine nicht mal halb so alte Niederländ­erin aus dem Nichts, die dann schneller ist als sie.

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Foto: AFP/Jung Yeon-Je Alles auf Orange: Die Eisschnell­laufwettbe­werbe stehen bislang ganz im Zeichen der Niederländ­er – Esmee Visser gewann das nächste Gold.

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