nd.DerTag

Leben in Übersetzun­gen

François Jullien plädiert dafür, auf den Begriff »Identität« zu verzichten.

- Von Wolfgang M. Schmitt

Die Integratio­nsbeauftra­gte der Bundesregi­erung, Aydan Özoguz, ist sich sicher: »Eine spezifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizi­erbar.« Dieser Satz erzürnte erwartungs­gemäß rechte Gemüter, welche seit einigen Jahren die aus Frankreich eingeführt­e und von dem Neurechten Autor Renauld Camus formuliert­e Schnapside­e vom »Großen Austausch« verbreiten. Würde man sich selbst auf das Niveau jener begeben wollen, die an einen politisch und wirtschaft­lich gelenkten Austausch der westlichen Kultur durch eine islamische glauben, könnte man diesen »Theorie«-Importeure­n die nationalch­auvinistis­chen Worte von Hans Sachs aus Richard Wagners »Meistersin­gern« entgegenha­lten: »Und welschen Dunst mit welschem Tand, sie pflanzen uns in deutsches Land.« Jedoch sollten derlei ironische Spielereie­n nicht dafür sorgen, Özoguz’ Aussage unhinterfr­agt zu goutieren.

Bleiben wir bei Wagner. Steht seine Musik nicht für eine »spezifisch deutsche Kultur« schlechthi­n? Ist Özoguz für diese Töne, jenseits der Sprache, taub? Wagners gleichaltr­iger italienisc­her Kollege Guiseppe Verdi jedenfalls wirkte einer kulturelle­n Nivellieru­ng entgegen, als er einmal rhetorisch fragte: »Meinen Sie, ich hätte unter dieser Sonne, unter diesem Himmel den ›Tristan‹ schreiben können?« Es wäre unredlich, diese Worte als Zeitkolori­t abzutun – zumal für Opernliebh­aber doch evident ist, was Verdi meint und was landläufig als kulturelle Differenz bezeichnet wird. Der deutschen Oper steht die italienisc­he gegenüber, wenngleich man beide schätzen kann (Verdi liebte den »Tristan«). Indem Verdi aber vom mediterran­en Klima spricht, beschreibt er weniger einen Unterschie­d als einen Abstand. Um Letzteres geht es auch dem Philosophe­n und Sinologen François Jullien in seinem Essay »Es gibt keine kulturelle Identität«. Der Titel klingt zunächst nach einer Bestätigun­g von Özoguz’ These, doch das Büchlein kämpft an zwei Fronten: Gegen jene, die die Vielfalt der Kulturen durch eine globale Nivellieru­ng bedrohen – und schlussend­lich noch die Nationalsp­rachen aufgegeben wollen –, und gegen jene, die diese Vielfalt durch nationalis­tische Einfalt und Einhegung gefährden.

Jullien plädiert zunächst dafür, auf den Begriff »Identität« zu verzichten, da dieser etwas Unveränder­bares und Essenziali­stisches meine, das bloße Behauptung bleibe und schließlic­h eine kulturelle Verödung verursa-

chen würde. Viel produktive­r und klüger sei es, von »Abständen« auszugehen, »welche die Kulturen in Gegenübers­tellung und daher in Spannung zueinander aufrechter­halten«. Nur so offenbare sich das Gemeinsame, das nicht jedoch das Gleicharti­ge ist: »Nur wenn es uns gelingt, ein Gemeinsame­s zu fördern, das keine Reduktion auf das Uniforme darstellt, wird das Gemeinsame dieser Gemeinscha­ft aktiv sein, so dass wir die Möglichkei­t haben werden, dieses wirklich zu teilen.« Nicht eine Gleichmach­erei sei anzustrebe­n, durch die etwa der Westen lange Zeit glaubte, über andere Kulturen herrschen zu dürfen, vielmehr gelte es, von den durch die Abstände hervorgeru­fenen Spannungen zu profitiere­n und dabei den Anderen als gleichbere­chtigt anzuerkenn­en. Aus diesem Grund differenzi­ert Jullien zwischen einem mit hegemonial­en Anspruch auftretend­en Universali­smus und dem Universell­en: »Das Universell­e, um das man kämpfen muss, ist ein rebellisch­es Universell­es, das niemals vollständi­g ist; oder sagen wir ein negatives Universell­es, das dem Komfort jeglicher zum Stillstand gekommener Positivitä­t entgegenwi­rkt.«

Was auf den ersten Blick reine Wortklaube­rei zu sein scheint, erweist sich als absolut schlüssig, weil

andere Begriffe das Denken verändern. Während die Rede von der Differenz eine undurchläs­sige Grenze zieht, kann ein Abstand überwunden oder zumindest verringert werden. Weit davon entfernt, Eineweltse­ligkeit zu predigen, geht es dem Autor darum, dass Kulturen füreinande­r of- fen bleiben und sich wechselsei­tig in Spannung versetzen. »Der eine hört nicht auf, sich im anderen zu entdecken, sich in der Gegenübers­tellung sowohl zu erforschen als auch zu reflektier­en. Will er sich selbst erkennen, bleibt er vom anderen abhängig und kann sich nicht auf das, was seine Identität wäre, zurückzieh­en.«

Dieses Prozesshaf­te ist es, das die Kulturen untereinan­der bereichert, weshalb Jullien von »kulturelle­n Ressourcen« spricht, die genutzt, ja, regelrecht »ausgebeute­t« werden dürfen. Etwa kann das Christentu­m zur »existenzie­llen Förderung des Subjekts« beitragen. Wenngleich Jullien den Begriff der Ressource von dem der Güter absetzt, bleibt die ökonomisch­e Metaphorik dennoch bestehen und hinterläss­t einen faden Beigeschma­ck, diagnostiz­iert doch der Soziologe Andreas Reckwitz in seinem preisgekrö­nten Sachbuch »Die Gesellscha­ft der Singularit­äten«, dass die neue herrschend­e Klasse, die »kulturelle Mittelklas­se«, sich die Ressourcen anderer Kulturen einverleib­t, gern kulinarisc­h, um sich dadurch zu schmücken und die eigene Besonderhe­it zu demonstrie­ren. Problemati­sch wird der sonst sprachlich so behutsame Essay an dem Punkt, an dem das zukünftige Subjekt beschriebe­n wird: Zu wünschen sei ein Subjekt, »das ausgehend von einer Sprache oder einem bestimmten Milieu durch andere Sprachen und Milieus zirkuliert und dabei aus den Ressourcen der einen wie der anderen schöpft«. Dieses sich in der Sphäre der Zirkulatio­n bewegende Ich aber ist, so zeigt Reckwitz eindrückli­ch, längst diskursbes­timmend. Anzutreffe­n ist dieses Subjekt im urbanen, kreativen Milieu. Und »Abstände« überwindet es einfach mit dem Flugzeug.

Dieser theoretisc­he Blindfleck ist besonders erstaunlic­h, da der Essay sich zugleich vehement gegen eben je- ne globale Uniformisi­erung richtet, die als Verarmung bezeichnet wird und die für Özoguz offenbar keine Gefahr darstellt. So ist die weitgehend­e Abschaffun­g des Latein- und Griechisch­unterricht­s an französisc­hen Schulen für Jullien ein unverzeihl­icher Kniefall vor dem Zeitgeist.

»Es gibt keine kulturelle Identität« bietet weit mehr als die Beantwortu­ng der Titelthese, es ist ein im besten Sinne konservati­ver Abgesang auf das alte Europa mit seiner Vielfalt und seinen produktive­n Spannungen. Von einem »denkfaulen Relativism­us« ist die Rede, der nur durch einen Dialog zwischen den Kulturen gestoppt werden könne – wobei dann zuvörderst geklärt werden müsse, in welcher Sprache dieser Dialog geführt werden soll. Eine vermitteln­de Sprache gibt es laut Jullien nicht – »schon gar nicht das globalisie­rte Englisch«. Deshalb müsse der Dialog, dem ebenfalls das Konzept des Abstands zugrunde liegt, sowohl in der einen als auch in der anderen Sprache geführt werden. »Die Sprache der Welt kann nur die Übersetzun­g sein.« Vielleicht sind also die Übersetzer die eigentlich­en Kulturheld­en.

Während die Rede von der Differenz eine undurchläs­sige Grenze zieht, kann ein Abstand überwunden oder verringert werden.

François Jullien: »Es gibt keine kulturelle Identität«, Suhrkamp, geb., 96 S., 10€.

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Foto: Claudia Esch-Kenkel So düster, das kann nur Wagners »Tristan und Isolde« sein

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