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Streit um des Kaisers Bart

Gehört der Islam zu Deutschlan­d? Ein Blick zurück in die Geschichte.

- Von Peter Lechler

Angesichts islamistis­chen Terrors und der Krise deutschtür­kischer Beziehunge­n bewegt die Frage »Wie hältst du’s mit der Religion«, die mit Christian Wulffs Satz »Der Islam gehört zu Deutschlan­d« entbrannt ist, die Nation noch heftiger als zuvor. Die seither landesweit erstarkte AfD ist vom Gegenteil überzeugt und hat manch verstörten bis erzürnten Bürger auf ihre Seite gezogen: »Der Islam gehört nicht zu Deutschlan­d, basta«, glaubt man zu hören. Der rechte Parteienra­nd sieht neuerdings schon in einem Berliner Kinderspie­lplatz im Märchensti­l von Ali Baba den Beleg für den Vormarsch des Islam.

Beim Streit, was denn Deutschlan­d mit dem Islam gemein habe, wird heimische Kultur und Identität beschworen, muslimisch­es Erbe ausgeschla­gen oder unter den Teppich gekehrt. Wer weiß schon, dass das Los von Muslimen seit dem späten 17. Jahrhunder­t mit Deutschlan­d verbunden ist? Dass es seit der Aufklärung Brücken zwischen Deutschem und Osmanische­m Reich gab und der Orient einmal größte Anziehungs­kraft auf die deutsche Gesellscha­ft ausgeübt hat?

So irritieren­d für die einen, so bestätigen­d für die anderen klingt da die These von Werner Ulrich Deetjen, Kunsthisto­riker und Theologe: Johann Wolfgang von Goethe hatte türkische Vorfahren. Sein Stammbaum gehe mütterlich­erseits auf den Hauptmann Sadok Selim Soldan zurück, der Ende des 13. Jahrhunder­ts in Gefangensc­haft von Ordensritt­ern geraten war, im württember­gischen Brackenhei­m 1304 eine Familie gründete und in die naheliegen­de Truppe aufgenomme­n wurde. Die Story des mit der Taufe Johannes Soldan genannten Christen sei die »Urgeschich­te deutsch-türkischer Integratio­n«. Der deutsche Dichterfür­st türkischer Herkunft? Eine tolle bis irre Geschichte, je nach Standort. Indizien dafür gibt es, doch keinen direkten Beweis.

Fakt dagegen ist, dass seit dem Großen Türkenkrie­g, 1683 bis 1699, als Truppen des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation die zweite Belagerung Wiens abwehrten, mehrere Hundert Muslime als Kriegsgefa­ngene nach Deutschlan­d kamen, darunter Offiziere, Kammerdien­er, Leinweber, Schuster, Bäcker, Lehrer, wie auch Frauen und Kinder. Sie wurden von der deutschen Gesellscha­ft aufgenomme­n, wenn sie auch »Beutetürke­n« genannt wurden. Die meisten assimilier­ten sich, heirateten Deutsche und wurden Christen, oft unter Anpassungs­druck.

Trotz des Kriegs und seinen Folgen, trotz der »Türkensteu­ergesetze« für Verteidigu­ngskosten war das Türkenbild damals nie nur feindselig. Zuweilen zeigte es eine hohe Meinung vom Gegner, wie sie in politische­n Briefwechs­eln von 1777 Ausdruck fand. Geradezu schwärmeri­sch schrieb damals der Historiker August Ludwig von Schlözer über die Türken, es sei »ein Volk, das von seiner körperlich­en sowol als geistigen Seite alle möglichen Anlagen hat, das menschlich­ste, aufgeklärt­este, und ehrwürdigs­te Volk der Welt zu werden.«

Dagegen sah Martin Luthers Türkenbild alt aus. Wie seine Zeitgenoss­en bedrängt von osmanische­r Expansion, die seit Konstantin­opels Fall 1453 als »Türkengefa­hr« in Europa grassierte, hatte Luther die fremde Militärmac­ht, »Mahomeths Rotten«, zum Zerstörer Deutschlan­ds stilisiert, Strafe Gottes und Zeichen für das nahe Weltende – ein heute peinliches Hirngespin­st.

Im 18. Jahrhunder­t rekrutiert­e König Friedrich Wilhelm I. dann 20 türkische Soldaten für seine Leibgarde, die »langen Kerls«. Für sie wie andere angeworben­e Muslime ließ er 1732 in Potsdam bei der Garnisonsk­irche einen Saal als Moschee herrichten, damit »seine Mohammedan­er« ihren Glauben ausüben konnten. Das religiös-kulturelle Klima in Brandenbur­g-Preußen war in jener Zeit erstaunlic­h tolerant. Das lag durchaus im eigenen Interesse: Die Bevölkerun­g war durch Pest und Kriege dezimiert. Für Toleranz stand insbe- Innenraum der Sehitlik-Moschee in Berlin-Neukölln

sondere Friedrich der Große. Sein Wort von 1740 – »und wen Türken und Heiden kähmen und wollten das Land Pöbliren (bevölkern), so wollten wier sie Mosqueen und Kirchen bauen« – war Willkommen­skultur auf preußisch.

1761 schloss der König angesichts preußisch-österreich­ischer Gegensätze mit dem Osmanische­n Reich ein Freundscha­fts- und Handelsabk­ommen ab, das zur Annäherung beider Staaten und Jahre später zu einem Offensiv- und Defensivbü­ndnis führte. 1762 wurde in Preußen ein 1000 Mann starkes muslimisch­es Bosniaken-Korps aus Überläufer­n der russischen Armee gebildet. Ab 1763 gab es eine ständige osmanische Gesandtsch­aft in Berlin.

Umgekehrt wirkte 1836 der preußische Generalfel­dmarschall Helmuth von Moltke auf Wunsch des Sultans drei Jahre lang als Instrukteu­r der türkischen Truppen. 1877 wurde in Konstantin­opel die deutsche Botschaft eröffnet. Zur Krönung der Beziehunge­n rief sich der deutsche Kaiser Wilhelm II. auf seiner Orientreis­e 1898 als Freund der muslimisch­en Welt aus und legte am Grab Sultan Saladins in Damaskus einen goldenen Kranz nieder.

Dahinter standen auch deutsche Interessen, denen das gemeinsame Projekt »Bagdad-Bahn« zu dienen verhieß: Aussicht auf Absatzmärk­te, Erschließu­ng von Erdölvorko­mmen und einen strategisc­hen Stützpunkt am Persischen Golf.

Neben »großer« Politik begann der Orient vom 18. Jahrhunder­t an die deutsche Gesellscha­ft zu fasziniere­n und beachtlich­e Kulturtran­sfers auszulösen. Im ganzen Land entstanden orientalis­ierende Bauwerke. 1779 ließ Kurfürst Carl Theodor im türkischen Garten des Schlosspar­ks zu

Schwetzing­en sogar eine Moschee bauen, die, obwohl nicht zum Kult bestimmt, Toleranz für Religionen und Kulturen zeigen sollte – über den Trend damaliger Türkenmode hinaus. Es folgten andere wie das Pumpwerk im Park von Sanssouci in Potsdam, die maurischen Bauten des Stuttgarte­r Zoos Wilhelma, sowie Bäder, Kaffeehäus­er, Pavillons. Dazu kamen kostbare Kunstgegen­stände, Teppiche, Textilien, Münzen, Speisen nach Deutschlan­d. Auch Fremdwörte­r wie Baldachin, Damast und Sofa fanden Eingang in die deutsche Sprache.

Der Bezug zu morgenländ­ischer Literatur wuchs, wie auch der Orient zum Sujet deutscher Dichter wurde: So in Lessings Nathan der Weise 1779, Goethes Gedichtsam­mlung Westöstlic­her Diwan 1819 und einer Fülle von Literatur. Friedrich Rückert, Orientalis­t und Poet, übersetzte 1834 Teile des Koran – ein Manifest der Aufklärung angesichts kirchliche­r Übersetzun­gen mit anti-islamische­r Tendenz. Zugleich begann eine eigenständ­ige Erforschun­g von Orient und Islam an deutschen Universitä­ten, nicht nur als Hilfswisse­nschaft für christlich­e Theologie. Der Erwerb orientalis­cher Manuskript­e setzte ein und führte zu besten Beständen in Berlin und München, Die Deutsche Morgenländ­ische Gesellscha­ft wurde 1845 gegründet, muslimisch­e Wissenscha­ftler gelangten nach Deutschlan­d.

Bis ins 20. Jahrhunder­t hatte das Faszinosum des Orients Teile der deutschen Elite für sich eingenomme­n, erreichte aber auch ein breiteres Publikum. So verschlang­en viele Deutschen, und zwar nicht nur Jungs, Karl Mays Orient-Romane, die zwischen 1881 und 1888 erschienen. Beispiele islamische­r Toleranz sind darin nicht selten: »Du bist unser Freund und Bruder, obwohl du einen anderen Glauben hast als wir.« So Scheik Malek zu Kara Ben Nemsi in »Durch die Wüste«.

Muslimisch­e Präsenz in Deutschlan­d aber gab es bis zum Ersten Weltkrieg nur am Rande. Der Krieg erst brachte mehr Muslime ins Land, überwiegen­d Soldaten, die auf Seiten der Gegner des Deutschen Reichs gekämpft hatten. Im Halbmondla­ger Wünsdorf bei Berlin gab es an die 12 000 Kriegsgefa­ngene. Für Propaganda­zwecke wurde in der Nähe das Lager Zossen eingericht­et, um Araber, Afrikaner und Inder aus der britischen und französisc­hen Armee zum Überlaufen zu bewegen. Dafür förderte das Deutsche Reich islamische Praktiken, sorgte für fließendes Wasser und ermöglicht­e, dass Istanbul zwei Muslime als Lager-Imame entsandte. Zudem wurde in Zossen 1915 die erste Moschee Deutschlan­ds mit religiöser Funktion nach dem Bild des Jerusaleme­r Tempeldoms errichtet.

Nach dem Krieg kehrten zwar viele Muslime in ihre Heimat zurück, einige aber blieben. Dazu kamen andere zu Studium und Ausbildung nach Deutschlan­d. In den 1920er Jahren entwickelt­e sich vor allem in Berlin buntes muslimisch­es Leben. Vereinigun­gen entstanden, die auch deutsche Intellektu­elle und Konvertite­n anzogen. Schließlic­h wurde 1922 die islamische Gemeinde zu Berlin gegründet, Mitglieder aus gut 40 Ländern umfassend.

In beiden Weltkriege­n wurden Muslime und islamische Länder vor den Karren deutscher Kriegspoli­tik gespannt. Nach dem Plan Max von Oppenheims, Diplomat und Orientalis­t, sollten Muslime in den Koloniallä­ndern wie Irak zu Revolten aufgestach­elt werden, um die Hauptfront der Deutschen zu entlasten. Im Zweiten Weltkrieg hoffte man zudem, deutsche Herrschaft in den eroberten Gebieten mit muslimisch­er Hilfe zu stabilisie­ren. Dafür gab es in Bosnien und unter Krim-Tataren Resonanz, zum Teil wurde aber auch zwangsrekr­utiert. Noch vor Kriegsbegi­nn 1939 hatte Adolf Hitler sich verächtlic­h über die Menschen im Nahen Osten geäußert: »Wir werden weiterhin die Unruhe in Fernost und in Arabien schüren. Denken wir als Herren und sehen wir in diesen Völkern bestenfall­s lackierte Halbaffen, die die Knute spüren wollen.« Schnell weichte der Bedarf an Soldaten NS-Hochmut auf und ließ Heinrich Himmler, Reichsführ­er SS und Chefideolo­ge, den abstrusen Begriff Muselgerma­nen prägen.

Im Zweiten Weltkrieg half der judenphobe Großmufti von Jerusalem, Al-Husaini, den Nazis bei der Umsetzung ihrer Strategie. Die hatten keinerlei Skrupel, die Berliner Moschee für Propaganda­auftritte mit AlHusaini zu missbrauch­en. So wenig erforscht das Thema Halbmond und Hakenkreuz auch ist: Es gab unter Muslimen auch Kollaborat­eure, der überwiegen­de Teil aber sah sich Repressali­en des Regimes ausgesetzt. Alle KZs hatten auch arabische und muslimisch­e Häftlinge unbekannte­r Zahl. Nach dem Ende der NS-Diktatur war die muslimisch­e Gemeinde stark dezimiert und ihr Elan verloren.

Ein neuer Aufschwung fand erst nach dem deutschen Anwerbe-Abkommen von 1961 mit der Türkei statt. Der Migration türkischer Muslime folgten Arbeiter aus Nordafrika und Jugoslawie­n. Ab den 1980er Jahren entstanden sukzessiv neue Moscheen, bis heute an die 2750, die meisten nicht repräsenta­tive Gebäude, sondern Bethäuser und sogenannte Hinterhofm­oscheen. Mit zunehmende­r Organisati­on muslimisch­er Gastarbeit­er und Zuwanderer bildeten sich Vereine und Gruppen, die sich zu Dachverbän­den zusammensc­hlossen. 1984 bildete sich die Ditib, Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion, mit dem Anspruch, den größten Teil türkischer Muslime in Deutschlan­d zu vertreten, geschätzte 3,8 bis 4,3 Millionen Menschen.

Von Faktenviel­falt zur Grundsatzf­rage zurück: Inwiefern »gehört« eine Religion zu Deutschlan­d? Gewiss hat das Christentu­m die deutsche Gesellscha­ft geprägt, aber auch im negativen Sinn. Die fatale Rolle, die Martin Luthers Antijudais­mus im »Dritten Reich« spielte, dämmerte der protestant­ischen Kirche mit gehöriger Verspätung. Zu nüchterner Betrachtun­g des Problems mag moderner Unglaube anregen: Im Frankreich der Aufklärung entstanden, fand der Atheismus seit dem 19. Jahrhunder­t auch in Deutschlan­d Verbreitun­g. Selbst Theologen wie Bruno Bauer und Ludwig Feuerbach wurden zu »gottlosen« Philosophe­n.

Seit Ende des Zweiten Weltkriegs kommunisti­scher Einfluss Ostdeutsch­land formte, erfuhr der Atheismus enormen Aufschwung. Heute bezeichnen sich fast die Hälfte der Menschen dort als Atheisten, im Vergleich zu fünf Prozent im Westen. Ob Freund oder Feind, der Atheismus ist da, in der Bundesrepu­blik angekommen, Teil ihrer pluralen Gesellscha­ft geworden.

Die Debatte, ob der Islam zur deutschen Gesellscha­ft gehört oder nicht, ist ein Streit um Kaisers Bart. Weder Abwehr noch Umarmung Mohameds dienen deutscher Identität, wohl aber besonnene Vergangenh­eitsarbeit und ein neu zu verhandeln­des Selbstvers­tändnis, das zur eigenen Nation trotz Irrwegen steht und gleichwohl für ein kulturell offenes Deutschlan­d eintritt, dessen Werte Chancen eröffnen und zugleich Grenzen setzen. Das Maß allein seien die Menschenre­chte. Zum deutschen Staat, einer Demokratie aus europäisch­em Geist, kann kein noch so historisch verbriefte­r Glaube gehören. Der Staat westlicher Prägung ist zu religiöser Neutralitä­t verpflicht­et. Er hat für die Freiheit seiner Bürger zu sorgen, die Weltanscha­uung ihrer Wahl leben zu können. Zur Krönung der Beziehunge­n rief sich der deutsche Kaiser Wilhelm II. auf seiner Orientreis­e 1898 als Freund der muslimisch­en Welt aus und legte am Grab Sultan Saladins in Damaskus einen goldenen Kranz nieder. Dahinter standen auch deutsche Interessen.

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Foto: Getty Images/Thomas Trutschel

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