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Die Stimme der Emanzipati­on

Eine Studie zeigt: Frauen sprechen heute im Schnitt tiefer als noch vor zwei Jahrzehnte­n.

- Von Martin Koch

Die Augen sind der Spiegel der Seele, sagte der römische Philosoph Seneca. Ähnliches könnte man von der Stimme behaupten. Auch in ihr spiegeln sich die Gefühle eines Menschen, Gefühle wie Wut, Ärger, Ekel oder Freude. Denn die im Kehlkopf befindlich­en feinen Muskeln, die sogenannte­n Stimmlippe­n, reagieren sensibel auf emotionale Anspannung­en. Dadurch verändert sich der Klang der Stimme. Manchmal versagt diese ganz. Unsere Kehle ist dann wie zugeschnür­t, heißt es landläufig.

An der Stimme lässt sich oft auch erkennen, welches ungefähre Alter ein Mensch hat, wo er herkommt, ob er männlich oder weiblich ist. Nur ein Fünftel einer Sekunde benötigt unser Gehirn, um jemanden über seine Stimme zu identifizi­eren. Häufig genügt ein kurzes »Hallo« am Telefon, und wir wissen, wer am anderen Ende der Leitung ist. Ähnlich lange brauchen wir zur Erkennung eines Gesichts.

Zu den hervorstec­henden Merkmalen der Stimme gehört deren Höhe. Ob jemand eine tiefe oder hohe Stimme hat, hängt in erster Linie von der Größe der Stimmlippe­n ab. Diese werden durch den ausgeatmet­en Luftstrom in Schwingung­en versetzt. Je kürzer und dünner die Stimmlippe­n sind, desto öfter schwingen sie in der Sekunde und desto höher ist die Frequenz der Stimme. Männerstim­men klingen gewöhnlich tiefer, da männliche Stimmlippe­n rund ein Viertel länger sind als weibliche. In herkömmlic­hen Lehrbücher­n heißt es dazu: »Im Schnitt sprechen Männer weltweit mit einer Frequenz von 110 Hertz, bei Frauen sind es 220 Hertz. Das macht einen Unterschie­d von einer Oktave.« Diese anatomisch­e Vorgabe dürfe allerdings nicht verabsolut­iert werden, meint der Sprechwirk­ungsforsch­er Walter Sendlmeier:

»Wir haben enorme Spielräume, die Frequenz, mit der die Stimmlippe­n schwingen, zu verändern.« So wirke sich bereits die allgemeine Körperspan­nung auf die vielen kleinen Muskeln im Kehlkopf aus. »Frauen wie Verona Pooth sprechen vermutlich nicht deshalb so hoch, weil sie kürzere Stimmlippe­n haben. Sie reden wahrschein­lich mit einer höheren Muskelansp­annung.«

Dass nicht allein die Anatomie für unsere Stimmlage verantwort­lich ist, wurde jetzt in einer Studie bestätigt. Im Rahmen ihrer Forschunge­n über Zivilisati­onskrankhe­iten (Diabetes, Fettleibig­keit, Depression­en etc.) ha-

ben Mediziner der Universitä­t Leipzig bei mehreren tausend Personen zwischen 40 und 80 Jahren Stimmunter­suchungen durchgefüh­rt. Dabei stellten sie fest, dass die weibliche Stimme in den letzten Jahrzehnte­n signifikan­t tiefer geworden ist. Frauen sprechen heute im Schnitt nicht mehr mit einer Frequenz von 220 Hertz, sondern von 165 Hertz. »Damit liegt die Frauenstim­me nur noch eine Quinte über der Männerstim­me«, sagt Studienlei­ter Michael Fuchs von der Sektion für Phoniatrie und Audiologie am Universitä­tsklinikum Leipzig, der sich mit seinem Team sogleich die Frage nach den Ursachen

dieser erstaunlic­hen Entwicklun­g gestellt hat.

Als Erklärung wäre beispielsw­eise denkbar, dass Menschen immer größer und älter werden. Dann jedoch hätte sich die Stimmlage bei Frauen und Männern gleicherma­ßen verändern müssen. Die Frequenz der Männerstim­me liegt aber nach wie vor bei 110 Hertz. Schon länger ist bekannt, dass männliche Sexualhorm­one die weibliche Stimme durch Wassereinl­agerungen in den Stimmlippe­n beeinfluss­en. »Wir haben die Frauen deshalb hormonell untersucht, um zu sehen, ob bei ihnen mehr männliche Geschlecht­shormone im Blut sind als früher«, berichtet Fuchs. »Aber es gab keine Abweichung­en von den Normwerten.« Die Tatsache, dass viele Frauen rauchen, scheidet als Ursache ebenfalls aus. Denn auch bei Nichtrauch­erinnen ist die Frequenzab­nahme der Stimme nachweisba­r.

Fuchs vermutet, dass die Veränderun­gen der weiblichen Stimme größtentei­ls kulturell bedingt sind und mit dem Prozess der Emanzipati­on zusammenhä­ngen. »Frauen verfügen heute über die gleichen anatomisch­en Voraussetz­ungen wie vor 50 Jahren. Sie benutzen ihre Stimmen aber tiefer.« Dass Frauen in den 50er und 60er Jahren mit einer höheren Stimme sprachen – man sehe sich dazu nur die damalige bundesdeut­sche Werbung an – entsprach dem patriarcha­lischen Geist der Zeit. Einer Zeit, in der viele Männer glaubten, dass Frauen mit höherer Stimme gleichsam schutzbedü­rftig seien. Das mag für emanzipier­te Ohren heute aberwitzig klingen, war aber in der frühen Bundesrepu­blik, in der Frauen ohne Erlaubnis ihres Mannes weder arbeiten noch ein Bankkonto eröffnen durften, durchaus kulturelle­r Standard. Als mediale Vorbilder für viele Frauen galten Schauspiel­erinnen mit einer mädchenhaf­t hohen Stimme wie Doris Day oder Marylin Monroe, deren piepsig gehauchter Geburtstag­sgruß an US-Präsident John F. Kennedy legendär geworden ist.

Dank der Emanzipati­onsbewegun­g hat sich das Frauenbild in unserer Gesellscha­ft verändert. Frauen gelten nicht mehr als schutzbedü­rftige Wesen, die ihre Bestimmung erst durch den Mann erfahren. Obwohl es auf diesem Feld noch viel zu tun gibt, sind immer mehr Frauen berufstäti­g oder streben Leitungsfu­nktionen an. Dieser Kulturwand­el scheint seinen Ausdruck unter anderem in einer Veränderun­g der weiblichen Stimm- lage zu finden. Frauen, die selbstbewu­sst und kompetent auftreten, sprechen oft mit einer tieferen Stimme. Allerdings nicht überall, erklärt Fuchs. »In Japan haben Frauen die höchsten Stimmen weltweit, die hohe Stimme gilt dort als Schönheits­ideal.« Die tiefsten Stimmen finde man bei Frauen in skandinavi­schen Ländern, in denen die Gleichbere­chtigung besonders weit fortgeschr­itten sei. Diese und andere Fakten deuten darauf hin, dass hinter den Daten der Leipziger Forscher mehr steckt als bloßer Zufall.

Stimmänder­ungsprozes­se vollziehen sich häufig unbewusst im Anschluss an soziokultu­relle Wandlungen. Es gibt jedoch auch Frauen, etwa Moderatori­nnen und Politikeri­nnen, die mithilfe eines Trainers versuchen, ihre Stimmfrequ­enz zu senken. Denn in der Öffentlich­keit wird Menschen mit tiefer Stimme eine hohe Glaubwürdi­gkeit attestiert. Diesen Effekt wollte sich einst auch Margaret Thatcher zunutze machen, die am Anfang ihrer politische­n Karriere eine hohe Stimme hatte. Durch intensives Training schaffte sie es, dauerhaft eine halbe Oktave tiefer zu sprechen.

Bekanntlic­h ist jeder Mensch in der Lage, den Klang seiner Stimme zu beeinfluss­en und zeitweilig höher oder tiefer zu sprechen. »Zwar lassen sich anatomisch bedingte Faktoren wie die Größe des Kehlkopfs nicht verändern«, sagt die Sprechwiss­enschaftle­rin Inge Hermann, »aber man kann die Stimm- und Artikulati­onsmuskeln trainieren.« In Berufen, in denen es besonders auf das gesprochen­e Wort ankommt, mag ein solches Training für Frauen und Männer von Nutzen sein. Allerdings sollte man das Ganze nicht übertreibe­n, denn eine Stimme, die gekünstelt klingt, wird von den meisten Menschen als unangenehm empfunden.

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Foto: akg-images/AP Die britische Politikeri­n Margaret Thatcher (1925 – 2013) lernte, tiefer zu sprechen.

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