Die Stimme der Emanzipation
Eine Studie zeigt: Frauen sprechen heute im Schnitt tiefer als noch vor zwei Jahrzehnten.
Die Augen sind der Spiegel der Seele, sagte der römische Philosoph Seneca. Ähnliches könnte man von der Stimme behaupten. Auch in ihr spiegeln sich die Gefühle eines Menschen, Gefühle wie Wut, Ärger, Ekel oder Freude. Denn die im Kehlkopf befindlichen feinen Muskeln, die sogenannten Stimmlippen, reagieren sensibel auf emotionale Anspannungen. Dadurch verändert sich der Klang der Stimme. Manchmal versagt diese ganz. Unsere Kehle ist dann wie zugeschnürt, heißt es landläufig.
An der Stimme lässt sich oft auch erkennen, welches ungefähre Alter ein Mensch hat, wo er herkommt, ob er männlich oder weiblich ist. Nur ein Fünftel einer Sekunde benötigt unser Gehirn, um jemanden über seine Stimme zu identifizieren. Häufig genügt ein kurzes »Hallo« am Telefon, und wir wissen, wer am anderen Ende der Leitung ist. Ähnlich lange brauchen wir zur Erkennung eines Gesichts.
Zu den hervorstechenden Merkmalen der Stimme gehört deren Höhe. Ob jemand eine tiefe oder hohe Stimme hat, hängt in erster Linie von der Größe der Stimmlippen ab. Diese werden durch den ausgeatmeten Luftstrom in Schwingungen versetzt. Je kürzer und dünner die Stimmlippen sind, desto öfter schwingen sie in der Sekunde und desto höher ist die Frequenz der Stimme. Männerstimmen klingen gewöhnlich tiefer, da männliche Stimmlippen rund ein Viertel länger sind als weibliche. In herkömmlichen Lehrbüchern heißt es dazu: »Im Schnitt sprechen Männer weltweit mit einer Frequenz von 110 Hertz, bei Frauen sind es 220 Hertz. Das macht einen Unterschied von einer Oktave.« Diese anatomische Vorgabe dürfe allerdings nicht verabsolutiert werden, meint der Sprechwirkungsforscher Walter Sendlmeier:
»Wir haben enorme Spielräume, die Frequenz, mit der die Stimmlippen schwingen, zu verändern.« So wirke sich bereits die allgemeine Körperspannung auf die vielen kleinen Muskeln im Kehlkopf aus. »Frauen wie Verona Pooth sprechen vermutlich nicht deshalb so hoch, weil sie kürzere Stimmlippen haben. Sie reden wahrscheinlich mit einer höheren Muskelanspannung.«
Dass nicht allein die Anatomie für unsere Stimmlage verantwortlich ist, wurde jetzt in einer Studie bestätigt. Im Rahmen ihrer Forschungen über Zivilisationskrankheiten (Diabetes, Fettleibigkeit, Depressionen etc.) ha-
ben Mediziner der Universität Leipzig bei mehreren tausend Personen zwischen 40 und 80 Jahren Stimmuntersuchungen durchgeführt. Dabei stellten sie fest, dass die weibliche Stimme in den letzten Jahrzehnten signifikant tiefer geworden ist. Frauen sprechen heute im Schnitt nicht mehr mit einer Frequenz von 220 Hertz, sondern von 165 Hertz. »Damit liegt die Frauenstimme nur noch eine Quinte über der Männerstimme«, sagt Studienleiter Michael Fuchs von der Sektion für Phoniatrie und Audiologie am Universitätsklinikum Leipzig, der sich mit seinem Team sogleich die Frage nach den Ursachen
dieser erstaunlichen Entwicklung gestellt hat.
Als Erklärung wäre beispielsweise denkbar, dass Menschen immer größer und älter werden. Dann jedoch hätte sich die Stimmlage bei Frauen und Männern gleichermaßen verändern müssen. Die Frequenz der Männerstimme liegt aber nach wie vor bei 110 Hertz. Schon länger ist bekannt, dass männliche Sexualhormone die weibliche Stimme durch Wassereinlagerungen in den Stimmlippen beeinflussen. »Wir haben die Frauen deshalb hormonell untersucht, um zu sehen, ob bei ihnen mehr männliche Geschlechtshormone im Blut sind als früher«, berichtet Fuchs. »Aber es gab keine Abweichungen von den Normwerten.« Die Tatsache, dass viele Frauen rauchen, scheidet als Ursache ebenfalls aus. Denn auch bei Nichtraucherinnen ist die Frequenzabnahme der Stimme nachweisbar.
Fuchs vermutet, dass die Veränderungen der weiblichen Stimme größtenteils kulturell bedingt sind und mit dem Prozess der Emanzipation zusammenhängen. »Frauen verfügen heute über die gleichen anatomischen Voraussetzungen wie vor 50 Jahren. Sie benutzen ihre Stimmen aber tiefer.« Dass Frauen in den 50er und 60er Jahren mit einer höheren Stimme sprachen – man sehe sich dazu nur die damalige bundesdeutsche Werbung an – entsprach dem patriarchalischen Geist der Zeit. Einer Zeit, in der viele Männer glaubten, dass Frauen mit höherer Stimme gleichsam schutzbedürftig seien. Das mag für emanzipierte Ohren heute aberwitzig klingen, war aber in der frühen Bundesrepublik, in der Frauen ohne Erlaubnis ihres Mannes weder arbeiten noch ein Bankkonto eröffnen durften, durchaus kultureller Standard. Als mediale Vorbilder für viele Frauen galten Schauspielerinnen mit einer mädchenhaft hohen Stimme wie Doris Day oder Marylin Monroe, deren piepsig gehauchter Geburtstagsgruß an US-Präsident John F. Kennedy legendär geworden ist.
Dank der Emanzipationsbewegung hat sich das Frauenbild in unserer Gesellschaft verändert. Frauen gelten nicht mehr als schutzbedürftige Wesen, die ihre Bestimmung erst durch den Mann erfahren. Obwohl es auf diesem Feld noch viel zu tun gibt, sind immer mehr Frauen berufstätig oder streben Leitungsfunktionen an. Dieser Kulturwandel scheint seinen Ausdruck unter anderem in einer Veränderung der weiblichen Stimm- lage zu finden. Frauen, die selbstbewusst und kompetent auftreten, sprechen oft mit einer tieferen Stimme. Allerdings nicht überall, erklärt Fuchs. »In Japan haben Frauen die höchsten Stimmen weltweit, die hohe Stimme gilt dort als Schönheitsideal.« Die tiefsten Stimmen finde man bei Frauen in skandinavischen Ländern, in denen die Gleichberechtigung besonders weit fortgeschritten sei. Diese und andere Fakten deuten darauf hin, dass hinter den Daten der Leipziger Forscher mehr steckt als bloßer Zufall.
Stimmänderungsprozesse vollziehen sich häufig unbewusst im Anschluss an soziokulturelle Wandlungen. Es gibt jedoch auch Frauen, etwa Moderatorinnen und Politikerinnen, die mithilfe eines Trainers versuchen, ihre Stimmfrequenz zu senken. Denn in der Öffentlichkeit wird Menschen mit tiefer Stimme eine hohe Glaubwürdigkeit attestiert. Diesen Effekt wollte sich einst auch Margaret Thatcher zunutze machen, die am Anfang ihrer politischen Karriere eine hohe Stimme hatte. Durch intensives Training schaffte sie es, dauerhaft eine halbe Oktave tiefer zu sprechen.
Bekanntlich ist jeder Mensch in der Lage, den Klang seiner Stimme zu beeinflussen und zeitweilig höher oder tiefer zu sprechen. »Zwar lassen sich anatomisch bedingte Faktoren wie die Größe des Kehlkopfs nicht verändern«, sagt die Sprechwissenschaftlerin Inge Hermann, »aber man kann die Stimm- und Artikulationsmuskeln trainieren.« In Berufen, in denen es besonders auf das gesprochene Wort ankommt, mag ein solches Training für Frauen und Männer von Nutzen sein. Allerdings sollte man das Ganze nicht übertreiben, denn eine Stimme, die gekünstelt klingt, wird von den meisten Menschen als unangenehm empfunden.