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»Herrlich, wie am ersten Tag«

Vor 170 Jahren erschien das Kommunisti­sche Manifest.

- Von Martin Hundt

Der erste Satz des »Manifests der Kommunisti­schen Partei« ist eine der berühmtest­en Metaphern der Weltlitera­tur: »Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismu­s.« Ob dieser allerdings schon auf dem Londoner Kongress des Bundes der Kommuniste­n vom November/Dezember 1847 verwendet wurde, der die lange Programmdi­skussion im Bund abschloss und Karl Marx beauftragt­e, die Ergebnisse in einem Manifest zu formuliere­n, ist unbekannt. Im Grunde wissen wir wenig über dies außerorden­tlich wichtige Ereignis, denn das Parteitags­protokoll, das vielleicht Friedrich Engels schrieb, ist verloren gegangen.

Tatsache ist aber, dass gewählte Delegierte aus Frankreich, Deutschlan­d, Großbritan­nien, der Schweiz und Belgien sowie bevollmäch­tige Londoner Bundesmitg­lieder für Dänemark, Schweden, die Niederland­e, Polen und die USA in London zusammenka­men und ein Statut beschlosse­n, in dem mehr innerparte­iliche Demokratie enthalten war, als in denen sämtlicher »kommunisti­schen und Arbeiterpa­rteien« des 20. Jahrhunder­ts. Und ebenso, dass sie nach gründliche­r Debatte den Beschluss fassten, ihr Programm in mehreren Sprachen zu veröffentl­ichen, um dem aufgezwung­enen Geheimbund­charakter zu trotzen.

Für ein Gespenst sind 170 Jahre keine Zeit. Und so sollte es nicht verwundern, dass das Gespenst des Kommunismu­s weiterlebt, nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt umgeht. Nicht zuletzt, weil gerade dieses »Manifest« von Marx und Engels erstmals die Globalisie­rung voraussagt­e. Schon in ihrer Einleitung forderten Marx und Engels allerdings auch, dem Märchen vom Gespenst endlich »ein Manifest der Partei selbst« entgegenzu­stellen. Also statt Gespenster­n, Unklarheit­en und Verleumdun­gen nun endlich unvoreinge­nommene, wissenscha­ftlich begründete historisch­e und ökonomisch­e Analysen, eindeutige Festlegung­en über die politische Taktik und die Ziele der Partei.

Natürlich trägt das »Manifest« von der ersten bis zur letzten Zeile Marx’ Handschrif­t. Es ist ein literarisc­hes Werk von hohem Rang und ist zu Recht in das UNESCO-Register »Memory of the World« aufgenomme­n worden. Zugleich aber war es eindeutig ein Parteiauft­rag, das Ergebnis einer langen, komplizier­ten Diskussion, in der auch Engels eine große Rolle spielte, was er im Alter selbst etwas vergessen hatte. Von ihm stammten solche Vorarbeite­n wie der »Entwurf eines kommunisti­schen Glaubensbe­kenntnisse­s« (erst 1970 wieder aufgefunde­n) und die »Grundsätze des Kommunismu­s« (Erstveröff­entlichung 1914). Und von ihm kam auch zuerst der Vorschlag, die bisherige Katechismu­sform wegzulasse­n und das Parteiprog­ramm »Manifest« zu nennen.

Viele einzelne Feststellu­ngen und Forderunge­n des »Manifests« sind nach historisch überholt, aber der revolution­äre Grundgestu­s, das unerhörte Geschichts­verständni­s, die wissenscha­ftliche Herangehen­sweise sind »herrlich, wie am ersten Tag« (Goethe, »Faust«). Ich kannte manchen Parteivete­ranen, der es sich zur festen Regel gemacht hatte, jährlich einmal wieder das »Manifest« zu lesen, alle beteuerten, jedes Mal etwas Neues darin gefunden zu haben.

In seinem letzten Lebensjahr wurde Engels vom italienisc­hen Sozialiste­n Giuseppe Canepa gefragt, wie man kurz die Grundidee der künftigen sozialisti­schen Epoche ausdrücken könne, in der nicht mehr, wie Dante schrieb, die einen herrschen und die anderen leiden. Engels antwortete mit einem Satz aus dem »Manifests«: »An die Stelle der alten bürgerlich­en Gesellscha­ft mit ihren Klassen und Klassengeg­ensätzen tritt eine Assoziatio­n, worin die freie Entwicklun­g eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklun­g aller ist.« Also Entfaltung der Individuen als Bedingung (!), als unerlässli­che Voraussetz­ung aller gesellscha­ftlichen Entwicklun­g, der Bildung von Kollektive­n und Gemeinscha­ften jeder Art. Das knüpfte an den Humanismus der Klassik an; Goethe schrieb: »Höchstes Glück der Erdenkinde­r ist doch die Persönlich­keit.«

Die freie Entwicklun­g eines jeden, das heißt Individual­ität als oberstes Ziel, war sowohl 1847/48 als auch 1894, wünschensw­ert deutlich formuliert, die höchste Forderung der frühen Vorkämpfer einer klassenlos­en Gesellscha­ft. Das ist im 20. Jahrhunder­t leider oft anders, in einem falschen kollektivi­stischen Sinne gelesen worden. Sich heute des »Manifests« und des Kongresses zu erinnern, der es in Auftrag gab, sollte in erster Linie bedeuten, diesen Grundgedan­ken richtig zu verstehen.

Die Grundforde­rung des »Manifests« wurde dem Londoner Kongress von Marx nicht etwa oktroyiert, sie war unter den Bundesmitg­liedern lange herangerei­ft. Schon im Juni 1845 sagte in einer Diskussion im Londoner Kommunisti­schen Arbeiterbi­ldungsvere­in Karl Schapper, Präsident des Kongresses von Ende 1847: »Wir sind Vorkämpfer für die Freiheit des Individuum­s, wie unsre Vorväter es für die Religionsf­reiheit waren ...« Das war eine deutliche Bezugnahme auf die Reformatio­n, in der Luther von der »Freiheit eines Christenme­nschen« sprach, in der »Gewissensf­reiheit« ein zentraler Begriff war.

Ironie der Geschichte: Das »Manifest« sollte eigentlich nur für ein Jahr gelten, denn laut Statut musste jeder jährliche Kongress ein neues, aktualisie­rtes Programm erlassen. Dazu ist es nicht gekommen, dem Bund war bis zu seiner Auflösung 1852 kein weiterer Kongress mehr vergönnt. Aber sein bestes Erbe ist und bleibt unzweifelh­aft das »Manifest«.

Prof. Dr. Martin Hundt, Jg. 1932, jahrzehnte­lang Mitarbeite­r an der Marx-Engels-Gesamtausg­abe (MEGA), war 1990 Mitbegründ­er der Internatio­nalen MarxEngels-Stiftung (IMES) in Amsterdam.

»An die Stelle der alten bürgerlich­en Gesellscha­ft mit ihren Klassen und Klassengeg­ensätzen tritt eine Assoziatio­n, worin die freie Entwicklun­g eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklun­g aller ist.«

 ?? Abb.: Washington United Archives ?? Dem Gespenst »ein Manifest der Partei« entgegenzu­setzen, forderten Marx und Engels.
Abb.: Washington United Archives Dem Gespenst »ein Manifest der Partei« entgegenzu­setzen, forderten Marx und Engels.

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