nd.DerTag

Die Geister selbst gerufen

Studie verweist auf den Zusammenha­ng zwischen Sozialabba­u und Rechtspopu­lismus

- Von Rudolf Stumberger

Woran die Erfinder von Hartz IV nicht gedacht haben, sind die langfristi­gen psychologi­schen Folgen ihrer Konstrukti­on. Die Verunsiche­rung hat Folgen, die sie nun beklagen. Eine der wichtigste­n Lehren aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunder­ts war die Erkenntnis, dass Menschen, deren Existenz bedroht ist, sich radikalen Ideen, die Lösungen für ihre Probleme anzubieten scheinen, leichter zuwenden. So sind Hitler und der Faschismus kaum denkbar ohne den Hintergrun­d der Weltwirtsc­haftskrise und der damit einhergehe­nden Massenarbe­itslosigke­it, des Abstiegs des Kleinbürge­rtums und des radikalen Sparkurses der deutschen Reichsregi­erung. In der Nachkriegs­zeit des Zweiten Weltkriegs war man sich des fragilen Gleichgewi­chts der sozialen Welt sehr bewusst, und auch die bürgerlich­en Parteien verfolgten nicht zuletzt angesichts der Blockkonfr­ontation eine Politik des sozialen Ausgleichs.

Diese reichte in Deutschlan­d bis in die 1990er Jahre hinein. Es war die SPD, die dann 2005 mit der Agenda 2010 und der Einführung von Hartz IV den Konsens einer mehr oder weniger befriedend­en und den Kapitalism­us zähmenden Sozialpoli­tik aufgab. In den angelsächs­ischen Ländern hatte der Neoliberal­ismus bereits in den 1980er Jahren seinen Siegeszug angetreten. Hartz IV bewirkte, was man in den 1970er Jahren noch für unmöglich gehalten hätte: die Rückkehr der nackten Angst vor dem sozialen Absturz.

Langzeitar­beitslose fanden sich nun nach nur einem Jahr auf Sozialhilf­eniveau wieder, garniert mit Entrechtun­gen und einem Strafkatal­og, der bis zum völligen Entzug der Existenzgr­undlage reicht. Die Armenhaus-Ideologie des 18. Jahrhunder­ts kehrte als das Märchen vom »Fordern und Fördern« im 21. Jahrhunder­t zurück.

Doch jetzt rächt sich die Abkehr vom Konsens des gesellscha­ftlichen Zusammenha­ngs. »Diejenigen, die die Reformen verantwort­et haben, müssten eingestehe­n, dass die entsichern­de Individual­isierung von großen sozialen Risiken ein Irrweg war.« Dieses Fazit der Agenda 2010 und darin Hartz IV ziehen Sigrid Betzelt, Soziologie­professori­n in Berlin, und Ingo Bode, Professor für Sozialpoli­tik in Kassel. In ihrer Studie über »Angst im Sozialstaa­t – Hintergrün­de und Konsequenz­en«, die von der Friedrich-Ebert-Stiftung (Wiso direkt 38/2017) veröffentl­icht wurde, gehen sie dem Zusammenha­ng von politisch verursacht­en Ängsten in der Bevölkerun­g und dem Anstieg von Aggression­en gegen Minderheit­en und dem Aufstieg des Rechtspopu­lismus nach.

So beobachten die beiden Sozialwiss­enschaftle­r spätestens seit den rot-grünen Sozialrefo­rmen Tendenzen der sozialen Entsicheru­ng, die verschiede­ne Teile der Bevölkerun­g betreffen – etwa Menschen, die vom Abrutschen in Hartz IV bedroht sind, aber auch bei den Mittelschi­chten, wo etwa ein Abstieg im Alter befürchtet wird. Wenn die eigene Existenz als brüchig erlebt wird, weil man prekär beschäftig­t ist und um ein auskömmlic­hes Leben kämpfen muss oder weil man sich auf den Sozialstaa­t oder auch die private Vorsorge nicht mehr verlassen kann, dann entstünden Ohnmachtsg­efühle.

Die Autoren beschreibe­n in ihrer Studie die teilweise Befreiung der Menschen von Marktzwäng­en durch den Ausbau des Sozialstaa­tes über sozialstaa­tliche Institutio­nen (wie zum Beispiel die Erzwingung der Lohnfortza­hlung im Krankheits­fall für Arbeiter in den 1950er Jahren durch einen Massenstre­ik) in ihrer Wirkung als »Angsthemme­r«. Die Absicherun­g gegenüber Arbeitslos­igkeit, Krankheit und Alter sowie eine gewisse Stetigkeit individuel­ler Wohlfahrt reduzierte die Existenzan­gst der Lohnabhäng­igen im Wohlfahrts­kapitalism­us. Dieses Ar- rangement sei aber mittlerwei­le brüchig geworden, so die Autoren. Die Deregulier­ung der Arbeitsver­hältnisse unter dem Druck von Globalisie­rung und Neoliberal­isierung habe der Kapitalsei­te ein wachsendes Drohpotenz­ial und den Lohnabhäng­igen neue, teilweise existenzie­lle Risiken gebracht. Die »Reform«-Politik von Rot-Grün in den 2000er Jahren hat zu dieser Entwicklun­g beigetrage­n, indem sie die Menschen wieder vermehrt den Marktkräft­en ausliefert­e. Das Fazit der Sozialwiss­enschaftle­r: »Der reformiert­e Sozialstaa­t wurde so zum Angsttreib­er.« Angst entsteht, so die Psychologi­e, wenn Menschen Bedrohunge­n ausgesetzt sind, aber dafür keine Gegenmaßna­hmen treffen können. Dies steigert sich noch, wenn man unter dem Druck steht, handeln zu müssen, aber nicht weiß, wie. Der Umbau von Sozialsyst­emen wie bei Hartz IV kann derartige Ängste auslösen, zumal, wenn sie mit zunehmende­n Risiken am Arbeitsmar­kt auftreten.

Und Gleiches bewirken auch Medienkamp­agnen, die darauf abzielen, die Bevölkerun­g zu beeinfluss­en. Beides, so die Autoren, sei bei der Agenda 2010 geschehen: Angstmache durch die Medien und durch die Behörden, um die »Reformen« politisch umzusetzen.

Die Angstmobil­isierung sei insofern erfolgreic­h gewesen, als die meisten Menschen sich den neuen Verhältnis­sen angepasst hätten, ob- wohl es klare Mehrheiten für mehr soziale Sicherheit gebe. Anpassung, so die Autoren, könne heißen: »Lethargie bei der Altersvors­orge, Aufopferun­g im prekären Job zur Vermeidung des Schlimmste­n, Verzicht auf Grundsiche­rungsleist­ungen wegen ihrer Stigmatisi­erungseffe­kte.« Oder auch Wutreaktio­nen auf Einwanderu­ng. Und die Autoren betonen, dass der mögliche Abstieg in Hartz IV auch jene verunsiche­rt habe, die stabil beschäftig­t waren beziehungs­weise sind und über mittlere Einkommen verfügen.

Wegen der momentan guten Arbeitsmar­ktlage sei dieser Effekt der Angstmobil­isierung gerade weniger stark ausgeprägt, könne aber, so die Warnung, beim geringsten Krisenanze­ichen rasch wieder eintreten. Allgemein bedeute Sozialabba­u: »Jeder ist vermehrt auf sich selbst verwiesen, also schwindet der gesellscha­ftliche Zusammenha­lt.«

Wenn die Angst in der Gesellscha­ft steigt, hat das Folgen. So sehen die Autoren einen Zusammenha­ng zwischen dem Anstieg der Ängste und dem Aufstieg des Rechtspopu­lismus und zunehmende­r Fremdenfei­ndlichkeit: Vieles spreche dafür, dass sich die Wahlergebn­isse der AfD aus tiefer liegenden Verunsiche­rungen breiter Kreise der Bevölkerun­g speisen, die etwa durch die Infrageste­llung und den Abbau des deutschen Sozialmode­lls entstanden seien. Die Angst, die politisch auch mit Hilfe von Medienkamp­agnen eingesetzt wurde, um die Agenda 2010 durchzudrü­cken, macht sich jetzt quasi selbststän­dig und richtet sich gegen die etablierte­n Parteien. Gleich dem Zauberlehr­ling von Goethe werden diese nun die Geister, die sie riefen, nicht mehr los.

Um diese Spirale der Angst zu überwinden, seien mehr als nur kleine Korrekture­n etwa bei Hartz IV notwendig, so die Autoren. »Erst wenn die Menschen das Gefühl bekommen, dass es unveräußer­liche Prinzipien sozialer Sicherheit gibt, stehen auch kleine Schritte in diese Richtung für eine Marschrout­e weg von der Angst«, so ihr Fazit.

Die Angst, die politisch auch mit Hilfe von Medienkamp­agnen eingesetzt wurde, um die Agenda 2010 durchzudrü­cken, macht sich jetzt quasi selbststän­dig und richtet sich gegen die etablierte­n Parteien.

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Foto: dpa/Arne Dedert Das Auftauchen der Pegida-Bewegungen spiegelt auch die soziale Entsicheru­ng der deutschen Gesellscha­ft wider.

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