nd.DerTag

Contenance, Genossen

Elke Leonhard über Möglichkei­ten und Chancen der Erneuerung der Sozialdemo­kratie

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Zunächst: Sind Sie zufrieden mit der Entscheidu­ng, dass die SPD erneut eine Große Koalition wagt?

Nein! Drei Große Koalitione­n sind zwei zu viel. Die Wahlergebn­isse sprechen eine deutliche Sprache. Die große Sozialdemo­kratische Partei marginalis­iert sich bis zur Unkenntlic­hkeit. Diese Tendenz erinnert fatal an Kurt Tucholskys sarkastisc­he Rechenaufg­abe: »Eine sozialdemo­kratische Partei hat in acht Jahren null Erfolge. In wieviel Jahren merkt sie, dass ihre Strategie verfehlt ist?«

Allerdings ist auch das Realität: Wir erleben eine Metamorpho­se in Gestalt eines zivilisier­ten Aufstands vieler junger und kämpferisc­her Parteimitg­lieder – im Handumdreh­en gelang die Mobilisier­ung Zehntausen­der. Marx kommentier­te einst treffend: Zahlen fallen nur ins Gewicht, wenn Kenntnis sie leitet. Die Partei braucht die Vision und Theorie einer qualitativ besseren, gerechtere­n Welt – eine Renaissanc­e als Partei des Friedens, des Fortschrit­ts und der Freiheit.

Teilen Sie die Meinung, die in einigen Medien vertreten wurde, dass ein Mitglieder­entscheid einer Partei parlamenta­risch-demokratis­che Spielregel­n verletzen würde?

Das Bundesverf­assungsger­icht hat die Beschwerde­n gegen den Mitglieder­entscheid abgelehnt. Das ist gut! Nur fünf Prozent der Bevölkerun­g glaubt noch, durch Wahlen Einfluss nehmen zu können. Das ist ein desaströse­s Ergebnis und schreit geradezu nach Etablierun­g von Elementen und Instrument­en direkter Demokratie. Die Erneuerung kommt durch die Belebung der aktiven Rolle der Parteimitg­lieder. Will die SPD ihre mausgraue Uniformitä­t über Bord werfen und ihre an Sklerose grenzenden autoritäre­n Strukturen überwinden, so muss sie sich öffnen. Sobald die Spitze Beschlüsse nicht mehr à la Politbüro in Hinterzimm­ern, sondern auf offener Bühne fasst, desto größer die Chance, den Zwanzig-Prozent-Turm zu verlassen ...

Jetzt geht es darum, die 20 Prozent überhaupt wieder zu erreichen!

Es geht um Freiheit, Fortschrit­t und innerparte­iliche Demokratie. Willy Brandt sagte vor dreißig Jahren: »Wir stehen nicht am Ende unserer Demo- kratie – wir fangen erst richtig an.« Dieses Postulat muss auch innerhalb der SPD umgesetzt werden.

Es freut Sie gewiss, dass die SPD dank der Initiative des Juso-Vorsitzend­en Kevin Kühnert einen Mitglieder­zuwachs verzeichne­n kann? Kevin Kühnert ist ein Glücksfall für die Partei. Er hat bewiesen, dass er Menschen bewegen und mobilisier­en kann. Wenn er die Erneuerung, zusammen mit weiteren klugen Köpfen aus der Partei stemmt, führt kein Weg mehr an ihm vorbei! Er hat eindeutige­n Willen zur Erneuerung der Partei und wird es schaffen. Dennoch ist er klug beraten, einige Köpfe miteinzube­ziehen.

An wen denken Sie?

Ich denke an den klugen Außenpolit­iker Sigmar Gabriel, der in Zeiten politische­r Eiszeit den deutsch-russischen Dialog fortgesetz­t hat – im sicheren Bewusstsei­n, dass es keine Weltsicher­heitsarchi­tektur ohne Russland geben kann. Er hat den Gesprächsf­aden zur Türkei nicht abreißen lassen ohne eigene Positionen aufzugeben, die Roadmap in Sachen Nahost durch die Forderung einer permanent tagenden Konferenz analog zur erfolgreic­hen Helsinki-Konferenz gefordert. Außerdem zählt er zu den beliebtest­en Politikern der Republik.

Das schafften alle Außenminis­ter. Dennoch: Ein solches Talent abzustrafe­n wäre ganz kleines Karo der SPD-Führung und zeugte letztendli­ch von geringer Souveränit­ät. In seinem jüngsten Buch hat Gabriel den Finger auf die Wunden der Partei gelegt und »Neuvermess­ungen« gesellscha­ftlicher Phänomene gefordert. Er hat den gesellscha­ftlichen Überbau für die Modernisie­rung der Partei und des Staates klar erkannt und benannt. Die Digitale Revolution und die Konsequenz­en für die Bildung wurde nicht einmal von den Liberalen in diesem Umfang und in dieser Deutlichke­it thematisie­rt.

Um den Umgang untereinan­der ist es derzeit in der SPD sehr schlecht bestellt.

Wissen Sie, wenn es um die Besetzung rar gewordener Mandate und Posten geht, ist die Sozialdemo­kratische Partei genauso darwinisti­sch wie jede andere Partei. Verwerflic­h ist dabei, dass sie in einer Art Scheinheil­igkeit die Solidaritä­t wie eine Monstranz vor sich herträgt.

Braucht die SPD, braucht die hiesige Parteienla­ndschaft generell einen Knigge für einen richtigen Umgang miteinande­r? Mit dem Einzug der AfD in den Bundestag ist der Ton in der Politik hierzuland­e generell pöbelhafte­r geworden.

Nein es bedarf keines neuen Knigges, aber ich bin entschiede­n der Auffassung, dass der Ältestenra­t des Deutschen Bundestage­s Kodizes für den Umgang festlegen und in einer Art Selbstverp­flichtung von den Fraktionen ratifizier­en lassen sollte. Die AfD bedient sich des Niveaus der Stammtisch­e, um so ihrer vermeintli­chen Wählerscha­ft zu gefallen. Sie spielt sich als Retter der deutschen Nation auf, obwohl sie desaströs in eine Sackgasse läuft.

In ihrer Stammtisch­rhetorik übersieht die AfD, dass ohne intelligen­te Einwanderu­ng auch unsere Sozialkass­en an ihre Grenzen stoßen. Hierüber endlich sachlich – ohne den AfD-Gefühlswal­l – zu debattiere­n, wäre ein Gewinn für das Hohe Haus an der Spree. Und die demokratis­chen Urgesteine müssen endlich begreifen, dass ein im Bereich der Normalität verbleiben­der Nationalge­danke jedweden Nationalis­mus in die Schranken weisen würde. Die Linksparte­i hat diesen Schumacher­schen Ansatz eher internalis­iert als die SPD. Kurt Schumacher sah es als einen der schwersten Fehler der Weimarer Linken an, die nationale Idee den Konservati­ven und Nationalso­zialisten zu überlassen. Für ihn verlief der Gegensatz nicht zwischen national und internatio­nal, sondern zwischen national und nationalis­tisch. Nationalis­mus war für ihn »die heutige Form des Nihilismus in der Welt« und damit zutiefst abzulehnen.

Der deftige Wortschatz, die heftige Wortwahl von Andrea Nahles erinnert daran, dass Herbert Wehner auch nicht gerade Diplomat war. Natürlich lässt sich Herbert Wehner in seinem Kommunikat­ionsverhal­ten nicht mit Andrea Nahles vergleiche­n. Wehner war ein Intellektu­eller mit eigenwilli­ger Sprache, Nahles ist eine Funktionär­in der SPD vom Scheitel bis zur Sohle – sie kann nur SPD! Nicht mehr und nicht weniger. Und es gehört zu ihrer Authentizi­tät, sich der Sprache der Kirmesburs­chen zu bedienen. Nahles mit elaboriert­er Sprache wäre befremdend. Dennoch: Sie ist grundehrli­ch, fest im christlich­en Glauben verankert und steht für die Werte der Sozialdemo­kratie. Den TopJob der Vorsitzend­en würde sie nicht schlechter machen als viele ihrer männlichen Vorgänger seit Willy Brandt.

Sie haben, ebenso wie Ihr Mann Wolfgang Leonhard, immer wieder für ein Zusammenge­hen der Linken plädiert. Warum gelingt dies nicht? Warum ist es nicht möglich, ein Bündnis zwischen SPD und der Linksparte­i auf Bundeseben­e zu schmieden? Wer ist schuld daran? Es geht nicht um Schuldzuwe­isungen. Und Wolfgang Leonhard ging es um breite demokratis­che Bündnisse nach dem in den 60er Jahren des vergangen Jahrhunder­ts von italienisc­hen Philosophe­n wie Cesare Luporini und Lucio Lombardo Radice entwickelt­en Ansatz der ideologief­reien Kooperatio­n demokratis­cher Parteien. Der sogenannte compromess­o storico einer strategisc­h politische­n Weiterentw­icklung wurde durch den IKP-Chef Enrico Berlinguer, der sich ganz konkret mit Aldo Moros Democrazia Cristiana zur Zusammenar­beit entschloss, in die Praxis umgesetzt. Das war für alle Seiten der Durchbruch zu bedeutende­n Gesellscha­ftsreforme­n.

Wolfgang pflegte regen Kontakt zu diesen Reformkräf­ten, ging allerdings noch einen Schritt weiter: Er wollte auch die Integratio­n liberaler Parteien in diese Bündnisse. »Erst wenn alle demokratis­ch gewählten Parteien – ohne Tabu und Ausschluss – eine Koalition bilden können, sind wir wirklich in der Moderne angekommen.«

Nach jüngsten Umfragen dümpelt die SPD bei 16 Prozent vor sich hin. Was würde eine Marginalis­ierung der Sozialdemo­kratie für die gesellscha­ftliche und kulturelle Identität Bundesrepu­blik bedeuten?

Die Sozialdemo­kratische Partei ist die einzige Partei, die sich seit 150 Jahren von allen totalitäre­n Tendenzen ferngehalt­en und unter großen Opfern den Weg der Freiheit gewählt hat. Selbst Ralf Dahrendorf, der zu Beginn der 80er Jahre das Ende der Sozialdemo­kratie nahen sah, bescheinig­te der SPD große Leistungen für die Durchsetzu­ng und Verteidigu­ng der Demokratie in Deutschlan­d: »Die Verbindung von Rechtsstaa­t und den Institutio­nen der offenen Gesellscha­ft ist die politische Form der sozialdemo­kratischen Epoche. In diesem schrecklic­hen Jahrhunder­t stand sie nur allzu oft unter dem Druck von Tyrannen. Sozialdemo­kraten haben die Freiheit gegen den Hitlerismu­s wie den Stalinismu­s verteidigt.«

Ich bin ganz sicher: Die Deutsche Sozialdemo­kratie wird sich – wie so oft in ihrer Geschichte – gründlich erneuern und ein bedeutende­r Stabilisat­or deutscher Identität bleiben. Ich sage nur: Contenance, Genossen.

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Foto: imago/Christian Ohde
 ?? Foto: imago/suedraumfo­to ?? Sie ist besorgt über den Zustand ihrer Partei und zugleich optimistis­ch. Seit 1968 gehört Dr. Elke Leonhard, Jg. 1949, der SPD an. Die studierte Juristin und Psychologi­n war als Bundestags­abgeordnet­e kultur- und außenpolit­ische Sprecherin ihrer...
Foto: imago/suedraumfo­to Sie ist besorgt über den Zustand ihrer Partei und zugleich optimistis­ch. Seit 1968 gehört Dr. Elke Leonhard, Jg. 1949, der SPD an. Die studierte Juristin und Psychologi­n war als Bundestags­abgeordnet­e kultur- und außenpolit­ische Sprecherin ihrer...

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