nd.DerTag

Überleben ohne auszuhalte­n

»Verlorene«, das Kinodebüt von Felix Hassenfrat­z, in der Sektion »Perspektiv­e deutsches Kino«

- Von Christin Odoj

Erst, wenn Maria (Maria Dragus) die Pedale der Orgel ganz nach unten drückt, sich die Luft durch die Pfeifen schiebt und im Zusammensp­iel eine Wand aus Klängen ins Kirchensch­iff niederschl­ägt, dann ist sie frei. Sie atmet Bach. Der Raum um sie herum löst sich auf. Maria ist erst 18, lebt aber das Leben einer von Verantwort­ung erdrückten Erwachsene­n. Seit dem Tod der Mutter ist sie zum Ersatzvorb­ild geworden. Beschützer­in der kleinen Schwester und geliebte Tochter des Vaters Johann (Clemens Schick), angesehene­r Zimmermann eines kleines badischen Dorfes im Kraichgau. Im krassen Kontrast zu Maria steht Hannah (An- na Bachmann), die die Schnauze voll hat vom Dorfkorset­t und dem Heiligensc­hein ihrer Schwester, die so perfekt die Rolle der Mutter eingenomme­n hat. Hannah geht auf Partys, färbt sich die Haare, trägt knallbunte T-Shirts und zu viel Kajal.

Ganz zaghaft wird deutlich, dass die normalen Abgrenzung­sversuche unter Geschwiste­rn nur eine Randerzähl­ung in Felix Hassenfrat­z’ beklemmend­em Kinodebüt »Verlorene« sind. Dafür ist die enorme Kraft, mit der Maria versucht, die Familie zusammenzu­halten, in der Erzählung zu dominant. Langsam nähert sich der Zuschauer zusammen mit Hannah dem, was in der Mitte des Films Gewissheit wird: Das zentrale Thema des Films ist der Missbrauch und die abscheulic­he gewaltlose körperlich­e Nähe des Vaters, die Maria zum Schweigen und letztendli­ch zum Durchhalte­n zwingt.

Der Film seziert vielschich­tig, welches System hinter denen steht, die Missbrauch ausüben. Maria Dragus schafft es, die ganze Tragödie in einen Blick zum Boden zu legen, während der Vater beim Abendbrot das Tischgebet spricht. Die ganze Autorität des Vaters, die Demut einfordert, steckt in dieser Tischszene. Wie Clemens Schick als Johann die Gabel in seinen immensen Zimmermann­sklauen hält und damit das Sauerkraut malträtier­t, das er mit dem Kiefer so fest kaut, als müsste er rohes Fleisch hinuntersc­hlingen. Dann würgt er mit einem knappen »Jetzt essen wir, es wird schon ganz kalt« jedes Gespräch am Tisch ab und es ist klar, wem im Ort man wohl glauben würde.

Dynamik entwickelt sich, als Valentin (Enno Trebs), ein Zimmermann auf der Walz, in Johanns Betrieb eine zeitweilig­e Anstellung findet. Maria verliebt sich in ihn, kann aber weder Gefühle noch Nähe zulassen. Natürlich fragt er sie, als er von ihr zurückgewi­esen wird, was los ist. Wie schon gegenüber Hannah sagt sie nichts. Angst und Scham machen einsam. Maria tut alles, um ihre kleine Schwester zu beschützen, und gibt im Zweifel sogar ihre eigenen Zukunftstr­äume auf.

In nüchternen, fast sterilen Bildern eines aufgeräumt­en Haushalts und Arbeitspla­tzes erzählt Hassenfrat­z, der auch das Drehbuch geschriebe­n hat, vom Ungeheuerl­ichen, das stark kontrastie­rt mit der Welt aus religiösen Ritualen, harter Arbeit und scheinbar normalem Familienle­ben. Rückzugsor­t für Maria wird die Kirchenorg­el, die, sobald sie erklingt, ihrem Gesicht und ihrem Körper etwas von dem Schmerz und der Last nimmt.

Der Film zeigt im Zusammensp­iel der Schwestern, dass eine Zeit angebroche­n ist, in der Aushalten und Schweigen nicht länger die wohlwollen­den Komplizen von Demütigung und Misshandlu­ng sind.

Am 20. Februar um 12.30 Uhr im Colosseum und um 20 Uhr im Cinemaxx

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