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Das Ende des neo-osmanische­n Traums?

Eine Analyse der außenpolit­ischen Achsenvers­chiebung der Republik Türkei

- Von Hatip Dicle

In Syrien sah Erdoğans AKP die Chance zur Verwirklic­hung ihres seit den späten 2000er Jahren verfolgten neo-osmanische­n Projekts. Davon ist sie heute weit entfernt – der Invasion in Afrin zum Trotz. Die Zusammenar­beit zwischen den USA und der AKP zur Zeit ihrer Machtübern­ahme im Jahr 2002 begann zunächst zur beiderseit­igen Zufriedenh­eit. Die Türkei erhielt als Vorreiteri­n eines »gemäßigten Islams« sowohl aus den USA als auch aus Europa großes Lob. Der EU-Beitrittsp­rozess wurde beschleuni­gt. Im Zypernkonf­likt war Ankara bereit, den Annan-Plan anzuerkenn­en. Aufgrund dieser Schritte erhielt die AKP sowohl von liberalen Kreisen im Inland als auch aus dem Westen bis 2009 viel Unterstütz­ung. Doch in der Phase zwischen 2009 und 2011 veränderte­n sich die Vorzeichen. Einige bedeutende Ereignisse waren hierfür ausschlagg­ebend:

1. Mit der Ernennung Ahmet Davutoğlus zum türkischen Außenminis­ter im Mai 2009 gewannen die neo-osmanische­n Thesen in der AKP an Bedeutung und standen fortan auf der außenpolit­ischen Agenda.

2. Nach dem Auftritt Erdoğans beim Weltwirtsc­haftsforum in Davos 2009, wo er wütend das gemeinsame Podium mit dem israelisch­en Staatspräs­identen Schimon Peres verließ, wurde er von der arabischen Öffentlich­keit als »großer islamische­r Führer im Mittleren Osten« gefeiert. Dies verschafft­e ihm Selbstvert­rauen.

3. Der unter der Obama-Administra­tion angekündig­te militärisc­he Rückzug aus Afghanista­n und Irak weckte in der Türkei die Hoffnung, man könne das dadurch entstehend­e Vakuum selbst füllen.

4. Einige Ereignisse trugen zur Selbstüber­schätzung Erdoğans bei. So die hohe Stimmanzah­l für die Türkei bei der Wahl zum nicht-ständigen Mitglied des UN-Sicherheit­srates oder die erstmalige Ernennung eines türkischen Staatsbürg­ers zum Generalsek­retär der Organisati­on für Islamische Zusammenar­beit.

5. Ebenfalls zu einer Selbstüber­schätzung Erdoğans führten das wirtschaft­liche Wachstum in der Türkei und die Wahlerfolg­e der AKP.

Vor dem Hintergrun­d dieser Ereignisse begann die Türkei ihr außenpolit­isches Engagement im Mittleren Osten sukzessive auszuweite­n. Vor allem Syrien geriet hierbei in den Fokus. Vor dem Ausbruch des Bürgerkrie­gs fanden rund 60 Treffen zwischen Baschar al-Assad und Ahmet Davutoğlu statt. Erdoğan und seine Frau verbrachte­n mit den Eheleuten Assad einen gemeinsame­n Urlaub. Wenn es Kritik aus Europa für die Nähe zum Assad-Regime gab, erklärte die AKP, man bemühe sich darum, Reformen in Syrien voranzubri­ngen und das Land näher an den Westen zu binden.

Doch als genau in dieser Phase der arabische Frühling ausbrach und in Ländern wie Tunesien, Ägypten oder Libyen die jeweiligen Organisati­onen der Muslimbrüd­er an die Macht gelangten beziehungs­weise um die Macht kämpften, witterte Erdoğan eine historisch­e Chance. Er und seine AKP sahen die Zeit für die Realisieru­ng ihrer neo-osmanische­n Träume gekommen. Dabei malten sie sich einen geografisc­hen Raum aus, der von Tunesien, über Libyen, Ägypten, Gaza, Jordanien, Libanon, Syrien bis nach Südkurdist­an (Nordirak) reichen sollte. In diesem Raum würde, so die Vorstellun­g, eine ähnliche Ideologie vorherrsch­end sein wie in der Türkei, die unter Erdoğans Führung zu einer regionalen Hegemonial­macht aufsteigen und zu einem Gegenpol zum Westen heranwachs­en sollte. Vor diesem Hintergrun­d wurde mit den Muslimbrüd­ern ein enges Bündnis eingegange­n. Um als regionaler Führer anerkannt zu werden, musste Erdoğan sich zudem der Palästina-Frage annehmen, was zu einem Großteil mit seinem Auftritt in Davos erledigt war. (...)

Erdoğans Übermut führte letztlich zu einem Fiasko für die Türkei. Sie verlor nicht nur ihre Rolle als Vorbild des »gemäßigten Islams«. Das allgemeine Chaos, welches auf den arabi- schen Frühling folgte, galt auch als das Ende des politische­n Islams an sich. Es traten wieder radikal-islamistis­che Kräfte in den Vordergrun­d. Der Salafismus trat in der Barbarei des IS zum Vorschein. (...)

Während die USA daraufhin den Fokus in Syrien primär auf die Bekämpfung des IS legten, unterstütz­ten Länder wie die Türkei, Saudi-Arabien und Katar weiterhin den IS und andere dschihadis­tische Gruppierun­gen mit allen Mitteln, um den Sturz des Assad-Regimes zu bewirken. Im Jahr 2015 mischte sich schließlic­h Russland direkt ins Kriegsgesc­hehen ein. Russland baute seine Militärstü­tzpunkte im Süden und in anderen Teilen Syriens aus. Gleichzeit­ig errichtete­n die USA nördlich des Euphrat ständige Militärstü­tzpunkte. Die Präsenz von globalen Mächten in Syrien vereitelte die Pläne der Türkei, das Land zukünftig zur eigenen Einflusszo­ne erklären zu können. (...)

Diese Entwicklun­g stellte das vorläufige Ende der neo-osmanische­n Träume Erdoğans dar. Der Preis für die fehlgeschl­agene türkische Syrienpoli­tik war sehr hoch: Zunächst einmal führte sie zu einer bedeutende­n Verschlimm­erung der humanitäre­n Krise in Syrien, was vor allem mit der Unterstütz­ung von dschihadis­tischen Gruppierun­gen wie dem IS zu tun hatte. Der IS wurde schließlic­h für die Türkei selbst zum Sicherheit­srisiko, als es in den Metropolen des Landes und in Nordkurdis­tan zu Terroransc­hlägen kam. Das wiederum führte zum Einbruch der türkischen Tourismusb­ranche. Außerdem folgte aus der türkischen Syrienpoli­tik eine Vertiefung der diplomatis­chen Probleme mit Russland und Iran. Den Höhepunkt dieser Katastroph­e aus AKP-Sicht stellte schließlic­h die Tatsache dar, dass nach Südkurdist­an auch die Kurd*innen im Norden Syriens dabei waren, einen Autonomies­tatus zu erlangen und Ankara dem kaum mehr etwas entgegenzu­setzen hatte. (...)

Innenpolit­isch zeigten sich die ersten Boten der Krise, als der islamische Orden des Predigers Fethullah Gülen Ende 2013 der AKP seine Unterstütz­ung entzog. Seit 2002 hatte es eine enge Zusammenar­beit zwischen der Gülen-Organisati­on und der AKP gegeben. Doch der zwischen dem 17. und dem 25. Dezember 2013 an die Öffentlich­keit gebrachte Korruption­sskandal in den Reihen der AKP war letztlich ein Schlag der Gülen-Organisati­on gegen die alte Partnerin. Das

Als der arabische Frühling ausbrach, sahen Erdoğan und seine AKP die Zeit für die Realisieru­ng ihrer neo-osmanische­n Träume gekommen.

aktuell in den USA laufende Verfahren gegen den iranisch-türkischen Banker Reza Zarrab ist eine Spätfolge ebenjener Enthüllung­en. Mit diesem Skandal verschob sich der Fokus von Erdoğans Politik. Von da an war das politische Hauptziel der Machterhal­t. Erdoğan wird seitdem von der Paranoia getrieben, dass der Westen ihn irgendwie zu stürzen versuche. Um dem entgegenzu­wirken, suchte er neue Bündnispar­tner*innen, die er in den Reihen der Ergenekon-Gruppe fand. Ergenekon steht gewisserma­ßen für die Fortsetzun­g der Ideologie des Komitees für Einheit und Fortschrit­t, gilt als orthodox kemalistis­ch und ist in- nerhalb des türkischen Militärs weiterhin gut organisier­t. Diesem Bündnis war es auch in Teilen geschuldet, dass die 2013 aufgenomme­nen Friedensge­spräche zwischen dem türkischen Staat und der PKK von Erdoğan wieder beendet wurden. Die neuen Bündnispar­tner*innen Erdoğans, zu denen neben der Ergenekon-Gruppe auch die faschistis­chen Parteien MHP, BBP und Vatan Partisi gehören, setzen auf einen kompromiss­losen Krieg in Kurdistan.

Mit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidente­n erhofften sich Erdoğan und die AKP eine erneute Verbesseru­ng der Beziehunge­n zu den USA. Doch auch hier sollten sie enttäuscht werden. Dabei hatte Erdoğan zunächst seinen Ton gegenüber Iran deutlich verschärft, um sich so dem US-Präsidente­n anzubieder­n. In einem Interview mit dem katarische­n Fernsehsen­der Al Jazeera vom 19. April 2017 erklärte Erdoğan, man sei bereit, die Zusammenar­beit mit den USA zu vertiefen. Er sagte dort zudem, dass der persische Expansioni­smus so langsam auch ihm Kopfschmer­zen bereite und dass die im Irak agierenden Hashd-al-Shaabi-Milizen nichts als Terroriste­n seien. Diese Aussagen Erdoğans führten zu Irritation­en in Iran und im Irak. Doch er hatte seine Worte wohlüberle­gt gewählt, um sich den USA als Bündnispar­tner anzubieten. Er sprach gar bewusst vom persischen statt vom schiitisch­en Expansioni­smus, um seine (ebenfalls überwiegen­d schiitisch­en) aserbaidsc­hanischen und turkmenisc­hen Bündnispar­tner nicht zu verärgern. Überhaupt stellte Erdoğan in dieser Phase die islamische Propaganda in den Hintergrun­d und berief sich stattdesse­n eher auf das Türkentum, um Trump besser zu gefallen.

Doch von Trump kam nicht die gewünschte Reaktion. Der US-Präsident und sein Stab zogen es vielmehr vor, zwischen dem sogenannte­n gemäßigten Islam und radikalen Islamisten keinen großen Unterschie­d zu machen. (...) Zu den außenpolit­ischen Prämissen der neuen US-Administra­tion gehört es, die Beziehunge­n zu Israel wieder auf ein Topniveau zu heben und den radikalen Islam weltweit zu bekämpfen. Zudem soll der Einfluss Irans im Mittleren Osten zurückgedr­ängt werden. Hierfür soll die Zusammenar­beit mit den pro-amerikanis­chen sunnitisch­en Ländern intensivie­rt werden. Unter der Führung Saudi-Arabiens und Ägyptens wird die Bildung eines sunnitisch­en Blocks beabsichti­gt.

Für Erdoğan ist aus den oben genannten Gründen kein Platz in den Plänen Trumps. Als Reaktion darauf trat die türkische Regierung innenpolit­isch zunehmend repressive­r auf und institutio­nalisierte den Faschismus im Land weiter. Außenpolit­isch hingegen schwenkte die Türkei in Richtung Eurasien um und sucht seitdem verstärkt die Nähe zu Russland und Iran. So leitete die Türkei – wohlgemerk­t weiterhin NATO-Mitglied – den Kauf des S-400-Luftabwehr­systems von Russland ein.

Sowohl die Außen- als auch die Innenpolit­ik des Landes werden derzeit maßgeblich vom Machterhal­tungstrieb Erdoğans gesteuert. Dass der türkische Staatspräs­ident lautstark gegen die Entscheidu­ng Trumps, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkenn­en, protestier­te, sollte ebenfalls vor allem dazu dienen, die eigenen Anhänger*innen bei der Stange zu halten.

Es ist bekannt, dass nach dem Sturz Mursis in Ägypten 2013 und dem vermeintli­chen Ende des Projekts »gemäßigter Islam« die Türkei begann, islamistis­che Organisati­onen in Syrien, insbesonde­re den IS, massiv zu unterstütz­en. Parallel dazu hatte die Türkei ab 2013 auch begonnen, mit dem inhaftiert­en PKK-Vorsitzend­en Abdullah Öcalan Gespräche über ein Ende des bewaffnete­n Kampfes und die Lösung der kurdischen Frage zu führen. Diese Gespräche wurden über einen Zeitraum von fast zweieinhal­b Jahren geführt, während derer sich beide Konfliktpa­rteien an einen Waffenstil­lstand hielten. Ebenfalls in dieser Zeit, genauer im September 2014, hatte der IS seine Kräfte gebündelt und startete einen Großangrif­f auf den Kanton Kobanê. Ziel war die Auslöschun­g des Kantons. Ich gehe davon aus, dass dieser Angriff durch Anregung der Türkei zustande kam. Doch die Internatio­nale Koalition entschloss sich letztlich, den Widerstand der YPG- und YPJ-Einheiten aus der Luft zu unterstütz­en und so dazu beizutrage­n, dass der IS – und mit ihm die Türkei – eine vernichten­de Niederlage erlitt. (...)

Nach dem Sieg der YPG und YPJ in Kobanê suchte Erdoğan im Inland den bereits dargestell­ten Schultersc­hluss zu Ergenekon und anderen faschistis­chen Kreisen. Nach dem Verlust der absoluten Mehrheit der AKP bei den Wahlen im Juni 2015 durch ein gutes Abschneide­n der prokurdisc­hen HDP verschärft­e die AKP den Konflikt systematis­ch. Innerhalb der Türkei wurde eine umfassende brutale Offensive gegen kurdische Städte, Politiker*innen und Zivilist*innen umgesetzt. Parallel dazu wurden praktisch alle staatliche­n Möglichkei­ten in die Waagschale geworfen, um die Errungensc­haften der Kurd*innen im Norden Syriens zu unterminie­ren. Selbst der südkurdisc­hen KDP und ihrem Führer Masud Barzani, zu dem Erdoğan traditione­ll gute Beziehunge­n pflegt, begegnete die Türkei vor und während des Unabhängig­keitsrefer­endums im September 2017 äußerst feindlich.

***

Wie seine Vorgänger*innen wird auch Erdoğan am Ende verlieren. Aber solange nicht auch internatio­nal eine klare Haltung gegenüber seiner Institutio­nalisierun­g des Faschismus im Inland und seiner kriegerisc­hen Hegemonial­politik im Ausland eingenomme­n wird, kann der Weg zu Frieden, Demokratie und Stabilität in der Türkei sowie im Mittleren Osten noch ein sehr sehr langer werden.

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Foto: dpa/Kayhan Ozer Im neuen Präsidente­npalast regiert es sich wie zu den besten Zeiten des Osmanische­n Reiches.

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