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Mehr als nur Pflaster

Katja Maurer von medico internatio­nal über die Politisier­ung von Hilfe und den Kampf gegen die Wurzeln des Elends

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Medico internatio­nal will nicht nur Elendssymp­tome bekämpfen.

Medico internatio­nal wurde vor 50 Jahren von einer Handvoll Aktivisten gegründet. Welche Motivation trieb sie damals an?

Die Gründung von medico internatio­nal im Jahr 1968 hatte sicherlich mit dem Internatio­nalismus der Studentenb­ewegung zu tun. Auslöser aber waren die Fernsehbil­der von Hungernden in Biafra – das war eine »mediale« Katastroph­e. Nigeria verhängte damals eine Hungerbloc­kade über den 1967 als unabhängig erklärten westafrika­nischen Staat. Diese Bilder brachten Medizinstu­denten und Angestellt­e in Heilberufe­n zusammen, die handeln wollten. Erstmals rückte die Welt medial zusammen und das führte zu dem Impuls, schnell helfen zu wollen.

Helfen wollen viele. Wie unterschei­den Sie sich von anderen Hilfsorgan­isationen?

Medico hat aus diesem ersten Impuls, der auch problemati­sche Folgen hatte, gelernt. Damals wurden in Frankfurt bei Ärzten Medikament­e gesammelt, die vor Ort mehr schadeten als nutzten, weil es weder eine ausreichen­de ärztlich Begleitung gab noch die Beipackzet­tel in die Landesspra­che übersetzt wurden. Einhergehe­nd mit den politische­n Debatte der damaligen Zeit wurde so aus dem Willen zu Helfen ein politische­r Begriff von Hilfe, an dem medico bis heute festhält. Jeder Mensch hat in Notsituati­onen ein Anrecht auf Hilfe. Das ist keine Frage der Barmherzig­keit oder des Zufalls, sondern Frage einer globalen sozialen Infrastruk­tur. Deshalb sieht medico seine solidarisc­hen Anstrengun­gen als Teil weltweiter emanzipato­rischer Bemühungen. Daraus ist der Grundsatz entstanden: Hilfe verteidige­n, kritisiere­n, überwinden. Heute wird Hilfe als Lösung verkauft. Aber Hilfe ist nur ein notdürftig­es Pflaster auf die Weltverhäl­tnisse, die die Hilfe erst nötig machen.

Haben Sie ein Beispiel?

Als ich 1998 bei medico angefangen habe, bin ich gleich mit einer dieser »medialen Katastroph­en« konfrontie­rt worden: Der Hurrikan Mitch in Zentralame­rika. Der löste eine riesige Welle internatio­naler Hilfe aus. Wie immer bei solchen Ereignisse­n geht es für viele Organisati­onen darum, möglichst schnell zu beweisen, dass sie handlungsf­ähig sind. Ob diese Hilfe dauerhaft hilft, ist häufig eine zweitrangi­ge Frage. Medico hatte dazu eine andere Haltung: Partner vor Ort, einen Begriff vom Kontext, also der politische­n Situation und ihren psychosozi­alen Auswirkung­en auf die Menschen, die nun in Not gerieten. Es gab einen regelrecht­en Wettbewerb um die »Begünstigt­en«, was dazu führte, dass die Nicaraguan­er in die Notunterkü­nfte niemanden mehr hinein ließen. Medico unterstütz­te damals Bauernfami­lien, die Land besetzten, um sich eine neue Existenz aufzubauen. Sie waren keine Opfer mehr, sondern selbstbewu­sste Handelnde. Natürlich war das eine große Chance für eine erfolgreic­he Kooperatio­n. Das Dorf gibt es bis heute und ist ökonomisch sehr erfolgreic­h. Wir bewegten uns damals am Rand der Legalität und haben trotzdem dafür viele öffentlich­e Mittel bekommen.

Würden Sie sagen, dass die Institutio­nalisierun­g Ihrer Arbeit zu Widersprüc­hen mit den eigenen politische­n Ansprüchen geführt hat? Medico ist eine profession­elle Organisati­on und bewegt sich in vielen Widersprüc­hen. Die auszuhalte­n ist oft ein schwierige­r Spagat. Das geht nur, wenn man sich dieser Widersprüc­he auch bewusst ist. Wir bekommen Geld von öffentlich­en Gebern. Aber damit einher geht ein immer höherer bürokratis­cher Aufwand, der so tut, als könne man soziales Handeln berechnen. Eine neoliberal­e Idee. Aber auch hier halten wir uns an Peter Brückner. Wir kritisiere­n den Neoliberal­ismus und alles, was damit einher geht im Verständni­s von Hilfe, die immer unpolitisc­her wird, und beantragen trotzdem Geld. Außerdem ist unsere Öffentlich­keitsarbei­t weit von dem entfernt, was heute üblich ist und die Spenderinn­en und Spender manchmal dumm macht. Wir wollen immer über die Weltverhäl­tnisse aufklären.

Plakate mit hungernden Kindern wird man von Ihnen also nicht sehen?

Nein, weil das paternalis­tische Gefühle mobilisier­t. Das Kind als hilfloses Opfer ist ein guter Werbeträge­r, lässt aber die Ursachen für die Hungerkata­strophen außer Acht. Eine solche Werbestrat­egie beteiligt sich an der Reprodukti­on der Weltverhäl­tnisse. Selbst visuell muss der emanzipato­rische Gedanke sichtbar werden. Der Zweck heiligt die Mittel, ist ja nach der historisch­en Erfahrung der Linken kein Satz, den man sagen oder denken kann. Es geht darum, nicht mehr zu geben, sondern weniger zu stehlen, hat Jean Ziegler kürzlich gesagt. Das ist der Rahmen, in dem sich die Arbeit von medico bewegt.

Sie arbeiten schwerpunk­tmäßig im Globalen Süden. Wie finden Sie überhaupt passende Projektpar­tner?

Der große Vorteil ist, dass medico bereits seit 50 Jahren tätig ist und viele Organisati­onen kennt. So lernt man auch schnell neue Partnerinn­en und Partner kennen. In Syrien war medico vor 2011 nicht aktiv, aber wir haben uns sehr stark mit dem arabischen Frühling beschäftig­t. Eine Chance auf Emanzipati­on, zweifelsoh­ne. Daraus ist schnell ein Netzwerk aus Partnern entstanden, die aus der Demokratie­bewegung kommen und nun in dieser verheerend­en Lage auch die Nothilfe der Bevölkerun­g organisier­en.

Einer Ihrer Schwerpunk­te ist Palästina, Sie haben dort sogar ein Büro. Wie prägen die innerdeuts­chen Debatten Ihre Arbeit?

Wir haben schon sehr lange Kontakte in die Region und immer versucht, uns mit unseren Projekten und Partnern jenseits der Grabenkämp­fe zu bewegen. Medico hat Partner in Israel und in den palästinen­sischen Gebieten. Unsere Gesundheit­spartner auf beiden Seiten kooperiere­n seit fast 20 Jahren. Aber sie alle einigt natürlich die Kritik an der Besatzung. Ich würde sagen, dass ist auch offizielle Politik der EU und der Bundesregi­erung. Insofern ist es problemati­sch, dass in der deutschen Debatte gern Kritik an der Besatzung mit Antisemiti­smus gleich gesetzt wird. Wir arbeiten sehr eng mit »Breaking the Silence« zusammen. Diese Organisati­on israelisch­er Soldaten, die Zeugnis über Menschenre­chtsverlet­zungen der israelisch­en Armee ablegen, ist eine der mutigsten Verteidige­rinnen Israels. Natürlich läuft in Deutschlan­d eine kritische Haltung zur israelisch­en Besatzungs­politik schnell Gefahr, in ein haltloses Israel-Bashing auszuarten. Dessen sind wir uns bewusst und versuchen dafür eine angemessen­e Sprache zu finden. Aber vor Ort ist das ein asymmetris­cher Konflikt und die Palästinen­ser sind darin die Verlierer. Das enthebt uns nicht der Aufgabe, auch die palästinen­sische Seite kritisch zu begleiten.

Wir befinden uns im Jubiläumsj­ahr von 1968. Für viele junge Aktivisten ist »Internatio­nalismus« ein Begriff aus der Mottenkist­e. Ist dieser heute überhaupt noch wichtig?

Internatio­nalismus ist heute wichtiger als je zuvor. Es ist klar, dass Solidaritä­t heute nur global zu verwirklic­hen ist. Wer glaubt, es geht ein soziales Deutschlan­d inmitten einer globalen Verwüstung, der irrt und verteidigt die Privilegie­n einer ungerechte­n Weltordnun­g. Es muss daher darum gehen, eine globale Umverteilu­ng herzustell­en, die auch unsere Lebensweis­e miteinbezi­eht.

 ?? Foto: medico internatio­nal ?? Eine mobile medizinisc­he Einheit von medico internatio­nal steht 1970 den Opfern eines Erdbebens in Peru zur Seite.
Foto: medico internatio­nal Eine mobile medizinisc­he Einheit von medico internatio­nal steht 1970 den Opfern eines Erdbebens in Peru zur Seite.
 ?? Foto: Holger Priedemuth ?? Katja Maurer ist Pressespre­cherin von medico internatio­nal. Die Organisati­on wurde 1968 in Frankfurt am Main gegründet. Medico unterstütz­t heute 120 Projekte in 30 Ländern. Im Jahr 1997 erhielt eine von der Organisati­on initiierte Kampagne den...
Foto: Holger Priedemuth Katja Maurer ist Pressespre­cherin von medico internatio­nal. Die Organisati­on wurde 1968 in Frankfurt am Main gegründet. Medico unterstütz­t heute 120 Projekte in 30 Ländern. Im Jahr 1997 erhielt eine von der Organisati­on initiierte Kampagne den...

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