Flüchtling, Trainer – ohne Familie
Nur Syrer mit vollwertigem Flüchtlingsstatus dürfen den Familiennachzug beantragen. Zwei Portraits
Kareem wird als Flüchtling anerkannt und kann seine Familie nach Deutschland holen. Ahmad Al-Tabakh nicht: Er erhält bloß subsidiären Schutz. Er steht kurz vor der Trennung von seiner Frau. Kareem hat heute vier Kitas abgeklappert. Drei hatten keine freien Plätze für seine kleinen Geschwister, die vierte will sich zurückmelden. Immerhin. Die beiden älteren Geschwister sind in der Schule, und die Eltern haben einen Platz im Deutschkurs bekommen. »Ich habe meine Eltern in der Schule angemeldet«, sagt Kareem, er lacht, aber in seiner Stimme schwingt auch Stolz mit.
Vor allem aber ist er erleichtert. Noch im Sommer vergangenen Jahres sah das ganz anders aus. Kareem, der weder seinen richtigen Namen noch sein Bild in der Zeitung sehen möchte, trennte damals noch ein halbes Jahr von der Volljährigkeit. Ein halbes Jahr, in dem es ihm, einem im Behördendeutsch »unbegleiteten minderjährigen Flüchtling« aus Syrien, gelingen musste, seine Eltern und Geschwister nach Deutschland zu holen. Nur Minderjährige können einen Antrag auf Familiennachzug für die Eltern stellen. Noch hatte er die Hoffnung, dass ihm der vollwertige Flüchtlingsstatus nach Genfer Flüchtlingskonvention zuerkannt wird. Mit dem subsidiären Schutzstatus, den die meisten Syrer seit Mai 2016 nur noch erhalten, wäre es ihm nicht erlaubt gewesen, den Familiennachzug zu beantragen. »Ich war richtig hilflos. Ich wusste einfach nicht mehr, was ich machen soll.«
Da war Kareem bereits seit zwei Jahren in Berlin, hatte erst in einem Hostel, dann in einem Heim für minderjährige Flüchtlinge gewohnt, kam in eine betreute Wohngemeinschaft, erfuhr, dass er einen Vormund braucht: um einen Schulplatz zu bekommen, um einen Asylantrag stellen zu können. Das machte er im März 2016. Drei Monate sollte es dauern, bis er zur Anhörung geladen würde, hieß es in der Ausländerbehörde. Doch als ihm nach einem knappen Jahr immer noch kein Datum für eine Anhörung genannt worden war, ging er zur Ausländerbehörde. »Ohne Termin für eine Anhörung gehe ich hier nicht raus«, sagte er der Sachbearbeiterin. Die nahm ihm beim Wort und klemmte sich dahinter. Ende März 2017 wurde Kareem angehört.
Dann hieß es wieder warten. Im August endlich kam der Anerkennungsbescheid – mit einer Überraschung: Kareem war nicht der subsidiäre Schutzstatus zugesprochen worden, sondern der vollwertige Flüchtlingsstatus nach Genfer Flüchtlingskonvention. Zufall. Und Glück.
Jetzt musste es schnell gehen. Am 1. Januar 2018 würde Kareem 18 Jahre alt werden. Seine Familie musste bis zum 31. Dezember einreisen, damit der Familiennachzug seine Gültigkeit nicht verliert. Sofort stellte er den Antrag, kümmerte sich um einen Termin für seine Familie in der deutschen Botschaft in Beirut im Libanon, suchte Unterlagen zusammen, um seine »Integrationsleistung« zu beweisen: Hohes Sprachniveau, Praktikum in einem Abgeordnetenbüro, Engagement für die »Schule ohne Rassismus«, die er besucht. Eine hohe Telefonrechnung für Gespräche ins Ausland später kam am 1. Dezember endlich die Zusage: Die ganze Familie durfte nach Deutschland kommen. Am 21. Dezember reisten Mutter, Vater und die vier Geschwister endlich nach Berlin.
Familiennachzug nicht gestattet Vielleicht ist es auch bei Ahmad AlTabakh Zufall, dass er weniger Glück hat. Fast zwei Jahre lebte er in einer Berliner Turnhalle, bis er endlich zumindest in ein Containerdorf umziehen konnte. Weil die Firma, die die Wohncontainer aufgestellt hatte, gepfuscht hatte, musste er nach nur wenigen Monaten wieder umziehen. Den Asylantrag stellte er kurz nach seiner Ankunft in Deutschland im November 2015. Doch entschieden wurde darüber erst im Oktober 2016. Wie die meisten Syrer erhielt er lediglich den eingeschränkten subsidiären Schutz. Für Al-Tabakh hieß das vor allem: Er durfte Frau und Sohn nicht nachholen. Zwei Jahre lang hatte er sie nicht mehr gesehen.
Al-Tabakhs Situation ist kompliziert. Ein Einzelfall – wie der eines jeden Menschen. Nach dem Schulabschluss bekam er ein Stipendium für eine Universität in Indien. Er konnte dort studieren was er wollte – anders als in Syrien. Dort, in Hyderabad, lernte er seine spätere Frau kennen – eine Kasachin. Nach dem Studium wollte sie zurück in ihre Heimat ziehen. Al-Tabakh ging mit. Beide hatten gute Jobs, sie bekamen ein Kind. 2013 lief Al-Tabakhs Reisepass aus. In Syrien herrschte mittlerweile Krieg.
Hätte er sich an die syrischen Behörden in Kasachstan gewandt, wäre er direkt in den Militärdienst entsendet worden. Dann lief auch noch sein Visum für Kasachstan aus. Al-Tabakh bat in seiner neuen Heimat um Asyl. Als sein Antrag abgelehnt wurde, holte er sich Unterstützung vom UN-Flüchtlingswerk UNHCR und klagte gegen die Regierung. Fast sechs Jahre lebte er in Kasachstan, die letzten zwei illegal. Als seine Klage schließlich abgelehnt wurde, beschloss er, nach Europa zu fliehen.
Knapp zwei Jahre später läuft AlTabakh durch den Flur im Stadtteilzentrum in Karow, zeigt auf die Zeichnungen, die an der Wand hängen und erklärt, was darauf zu sehen ist. Eines zeigt ein Fluchtboot, überfüllt mit Menschen in »Fake-Rettungswesten«, wie Al-Tabakh sagt: Sie sehen aus wie welche, sind aber faktisch zu nichts zu gebrauchen. Es ist das Boot, auf dem er über das Meer nach Europa gekommen ist. Al-Tabakh ist eigentlich Computeringenieur, zeichnet aber schon seit seiner Kindheit. In den Bildern, die im Stadtteilzentrum aushängen, beschreibt er den Alltag im Flüchtlingsheim, seine Erlebnisse beim ehemals für Flüchtlinge zuständigen Landesamt für Gesundheit und Soziales und seine Erfahrungen mit dem öffentlichen Nahverkehr der Hauptstadt.
Kontakt abgebrochen
Die Cartoon-Werkstatt, die er über ein Jahr lang regelmäßig besucht hat, gibt es mittlerweile nicht mehr. AlTabakh hat auch aufgehört zu zeichnen. Er ärgert sich, dass nichts voran geht: Er wohnt immer noch im Container in einer WG mit drei anderen Männern. Mit dem Deutschlernen geht es nur mäßig voran, er hat immer noch keinen Job. »Ich habe den Kontakt zu meiner Frau abgebrochen«, sagt er – und klingt verbittert. Mal habe er sie im Messenger geblockt, dann sie ihn. Warum? Seine Frau verstehe nicht, dass er sie nicht einfach nach Deutschland hole, dass er sich nicht einfach einen Job suche und mit seinem eigenen Geld die Familie hole. Aber er müsse ja zunächst die Deutschprüfung schaffen. »Und selbst wenn ich Arbeit habe – solange ich nur den subsidiären Schutz habe, ist mir der Familiennachzug nicht gestattet«, sagt Al-Tabakh. Weiter will er über seine Frau nicht reden. Stattdessen er erzählt er von einem syrischen Bekannten, der in Deutschland lebt, dessen Frau aber noch in Syrien. Nach drei Jahren unfreiwilliger Trennung habe sich das Paar scheiden lassen.
Zwei Monate später in einer Schwimmhalle in Lichterfelde West. Al-Tabakh, in Badehose und T-Shirt, steht am Beckenrand und beugt sich zu ein paar Frauen und Männern im Becken herunter. »50 Meter Brust und 50 Meter Rücken«, weist er sie an. AlTabakh assistiert beim Schwimmtraining, das die Wasserwacht SteglitzZehlendorf des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) dort anbietet. Als er 2015 mit anderen Flüchtlingen mit dem Schlauchboot über das Meer fuhr, konnte er selbst nicht schwimmen. Das machte ihm noch nachträglich so viel Angst, dass er unbedingt einen Schwimmkurs besuchen wollte. Die Deutsche Lebens-Ret- tungs-Gesellschaft (DLRG) bot Kurse, bei denen die ersten vier Stunden kostenlos waren. Al-Tabakh blieb auch danach dabei. Später nahm er zusätzlich an Kursen für Geflüchtete des DRK in Lichterfelde teil. Nach etwa einem Jahr machte er das Silberabzeichen für Rettungsschwimmer. Seitdem darf er bei Trainings aushelfen. »Ich schulde Deutschland etwas dafür, dass ich hier schwimmen gelernt habe«, erklärt er sein Engagement. Doch auch er hat etwas davon: »Ich habe jetzt viel mehr Kontakt zu Deutschen.« Und die betrachten ihn zum ersten Mal nicht als Flüchtling, sondern als Trainer.
Endlich den Sohn wiedergesehen Und noch etwas macht Al-Tabakh glücklich – und traurig zugleich: Am Wochenende hat er zum ersten Mal seit zwei Jahren seinen Sohn gesehen. Möglich war das, weil er endlich seinen »Reiseausweis für Ausländer« bekommen hat, eine Art Passersatz, den Nicht-Deutsche bekommen, die nachweislich keinen Pass besitzen. Damit konnte er zum ersten Mal das Land verlassen. Monatelange hatte er Geld gespart, um sich die Reise nach Kasachstan leisten zu können. Neun Jahre alt ist der Sohn jetzt, ist größer und schwerer geworden. »Ich kann ihn kaum noch auf den Schultern tragen«, sagt AlTabakh.
Ob das auch bedeute, dass er wieder Kontakt zu seiner Frau aufgenommen habe? Nein, sagt er. Er kommuniziere schon mit ihr, aber nur über Dinge, die seinen Sohn betreffen. Sie habe ihm auch eine Einladung ausgestellt, sonst hätte er gar kein Visum für seinen Besuch in Kasachstan erhalten, erzählt Al-Tabakh.
Er deutet auf sein Smartphone. Der Messengerdienst zeigt neue Nachrichten an. »60 neue Nachrichten in nur einer Stunde!« Al-Tabakh schüttelt verständnislos den Kopf. »Seit ich in Kasachstan war, will meine Frau, dass wir wieder zusammenkommen. Sie sagt immer wieder, dass es ihr leid tue, wie sie sich verhalten hat.« AlTabakh presst die Lippen aufeinander. Dann wechselt er das Thema. »Mein Sohn wollte, dass ich bleibe«, sagt er. Nach drei Tagen musste er aber zurück nach Berlin – zu seinem Job. Al-Tabakh arbeitet derzeit auf Probe bei einer Berliner IT-Firma. Den Kontakt erhielt er über das Programm »Work for Refugees« des Paritätischen Wohlfahrtsverbands und der Stiftung Zukunft. Al-Tabakh hofft, dass die Firma ihn übernimmt. Und, dass er bald seinen Sohn wiedersehen kann. »Ich hoffe so sehr auf den Familiennachzug.«
Erst einmal wird das aber nicht klappen. Der Bundestag hat gerade mit einer Mehrheit der Unionsparteien und der SPD die Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzbedürftige bis Ende Juli verlängert. Anschließend sollen 1000 Familienangehörige pro Monat kommen dürfen. »Ich habe eine Chance von eins zu einer Million«, sagt Al-Tabakh. Er übertreibt, die Hoffnung ist aber tatsächlich gering. Wenig Hoffnung hat er auch, dass seine Klage auf Zuerkennung der vollwertigen Flüchtlingseigenschaft Erfolg haben wird. Seit einem Jahr hat er nichts von seiner Anwältin gehört.
Bei Kareem hat der Familiennachzug geklappt. Obwohl Minderjährige nur einen Anspruch auf den Nachzug der Eltern haben, wurde die Einreise auch für die vier jüngeren Geschwister gewährt.
Ob er sich jetzt entspannt zurücklehnt? Nein, sagt Kareem. Weil er bisher der Einzige in der Familie ist, der Deutsch spricht, muss er nach dem Unterricht seine Eltern zu allen Terminen begleiten: Jobcenter, Integrationskurs, die Anmeldung seiner Geschwister in Schule und Kita. Auch für sich selbst darf und muss Kareem jetzt mehr Verantwortung übernehmen: Die Vormundschaft wurde mit der Volljährigkeit beendet. »Jetzt darf ich alles selbst unterschreiben.«
Ahmad Al-Tabbakh hat seinen Sohn seit zwei Jahren nicht gesehen. Er ist größer und schwerer geworden. »Ich kann ihn kaum noch auf den Schultern tragen«, sagt der Vater. Al-Tabbakh ist syrischer Flüchtling. Einen Anspruch auf Familiennachzug hat er nicht, weil ihm nur der subsidiäre Schutz gewährt wurde.