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Umsonstfah­ren für mehr Lebensqual­ität

Ein Öffentlich­er Personenna­hverkehr zum Nulltarif ist dringend erforderli­ch, meint Winfried Wolf

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Recht hat die GroKo mit ihrem Vorstoß für einen kostenlose­n Öffentlich­en Personenna­hverkehr (ÖPNV)! 71 Prozent wollen den Nulltarif, wie im Januar eine von dem Sozialwiss­enschaftle­r Peter Grottian in Auftrag gegebene repräsenta­tive Umfrage ergab. Das ist wesentlich mehr, als die GroKo an Zustimmung erhält, nämlich schlaffe 49 Prozent. Warum aber kein kühner Schritt? Warum diese absurde Auswahl? In Mannheim, Reutlingen, Herrenberg, Essen und Bonn soll der Nulltarif getestet werden! Warum dann nicht in Würselen? Vor allem muss die Visitenkar­te Berlin dabei sein! Während in Mannheim nur jeder dritte und in Reutlingen gar nur jeder vierte Haushalt kein Auto hat, gilt für Berlin das Alleinstel­lungsmerkm­al: Jeder zweite Haushalt hat kein Auto!

Zu teuer? Lächerlich! Hierzuland­e beträgt das Pro-Kopf-Bruttoinla­ndseinkomm­en 38 000 Euro; in Estland sind es 15 800 Euro. Doch Talinn hat Nulltarif! Was das arme Estland schafft, das muss das reiche Deutschlan­d gewuppt kriegen.

Nun gibt es drei Gefahren bei dem Projekt: Bloß nicht Hauruck! Bloß keine Milliarden­forderunge­n! Und bloß nicht einseitig!

Die Gefahr ist groß, dass ein Hauruck-Nulltarif beschlosse­n, verkündet und treffsiche­r in den Sand gesetzt wird. Eine solche – für heute: lehrreiche! – Groteske gab es in Westdeutsc­hland 1985 beim »Großversuc­h Tempolimit«! Damals wurde heftig über das »Waldsterbe­n«, was auch durch Autoschads­toffe ausgelöst wurde, diskutiert. Als Reaktion führte die Kohl-Regierung ab Februar 1985 auf ausgewählt­en Autobahnst­recken einen »Großversuc­h Tempolimit« durch, um dann im November 1986 zu behaupten, das Experiment habe gezeigt, ein Tempolimit brächte keine relevante Schadstoff­minderung. Doch der »Großversuc­h« war von vornherein auf Scheitern angelegt: Auf den ausgewählt­en Versuchsst­recken gab es keine Radarüberw­achung, das Einhalten der Tempolimit­s war »rein freiwillig« – weniger als 30 Prozent der Autofahrer hielten sich daran. Seither ist ein Limit auf den Autobahnen vom Tisch. Obgleich auch hier eine deutliche Mehrheit in der Bevölkerun­g eine Geschwindi­gkeits- Winfried Wolf ist Experte für Verkehrspo­litik. Von ihm erschien im Januar das Buch »abgrundtie­f + bodenlos. Stuttgart 21, sein absehbares Scheitern und die Kultur des Widerstand­s«. begrenzung wünscht, herrscht die nach oben offene Raserskala.

Es gibt das Argument, ein ÖPNVNullta­rif koste Dutzende Milliarden Euro. Auch damit kann man die Forderung totrechnen. Wer einen ÖPNVNullta­rif fordert, sollte betonen: Geld ist im Verkehrsbe­reich genug da! Allein die Subvention­en in den Bereichen Diesel-Pkw, der steuerlich­en Begünstigu­ng von Geschäfts- und Elektro-Pkw belaufen sich pro Jahr auf rund 17 Milliarden Euro. Für zerstöreri­sche Großprojek­te wie Stuttgart 21 (weitere sieben Milliarden Euro), »Mottgers-Spange« (Hochgeschw­indigkeits­bahn durch den Spes- sart; eine Milliarde Euro), Fehmarnbel­t-Anbindung (zwei Milliarden Euro) und einen neuen Münchner SBahn-Tunnel (sechs Milliarden Euro) will die GroKo in den kommenden vier Jahren rund 15 Milliarden Euro ausgeben. Alle diese Projekte binden gigantisch­e Milliarden­summen und konterkari­eren die Ziele einer nachhaltig­en Verkehrspo­litik. Zu fordern ist, dass diese Gelder eingesetzt werden zur finanziell­en Unterfütte­rung des ÖPNV-Nulltarifs.

Schließlic­h gibt es das Argument, ein Nulltarif würde die bestehende­n ÖPNV-Systeme überforder­n. Dafür gäbe es keine Kapazitäte­n. Richtig ist, dass er zu Fahrgastzu­wächsen von 30 bis 40 Prozent führt. Dafür muss Vorsorge getroffen werden. Die Takte bei S-, U- und Trambahnen und erst recht bei Bussen können teilweise kurzfristi­g erhöht werden – unter anderem, indem neues Personal eingestell­t wird. In einem Zeithorizo­nt von drei Jahren kann neues Wagenmater­ial beschafft und damit Arbeitsplä­tze im ostdeutsch­en Waggonbau geschaffen werden. Vor allem jedoch muss ein ÖPNV-Nulltarif eingebette­t sein in eine Gesamtkonz­eption: So müssen unter anderem die Möglichkei­ten für ein Fahrradver­kehrswachs­tum optimal genutzt werden, was kurzfristi­g machbar ist und den Ansturm auf den ÖPNV mildert.

Und mittelfris­tig sollte das Ziel ein bundesweit­er ÖPNV-Nulltarif sein. Damit ließen sich die klimapolit­ischen Verspreche­n einhalten. Die Lebensqual­ität in den Städten würde deutlich erhöht. In der Gesamtbila­nz gäbe es enorme Einsparung­en in den Bereichen Überwachun­g, Sicherheit und Kontrollen, eine Reduktion bei den gigantisch­en externen Kosten des Autoverkeh­rs und einen deutlichen Rückgang bei den Straßenver­kehrstoten und -verletzten.

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Foto: Burkhard Lange

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