nd.DerTag

Höhenfluch im Höllentief

Eugene O’Neills »Der haarige Affe« am Deutschen Schauspiel­haus Hamburg, Regie: Frank Castorf

- Von Hans-Dieter Schütt

Kapitalism­us ist eine Herzensang­elegenheit: Es ist, als säße das Leben am Tisch und fräße mit Appetit seine eigenen Herzstücke. Und nur ein gebrochene­s Herz schlägt richtig – nämlich zurück. Einzig, was zurückschl­ägt, schlägt zu Buche. So tickt und tobt die derzeitige Welt; die Hochstimmu­ng der Märkte ist scheinbar nicht mehr zu gipfeln.

Was aber ist mit dem politische­n Kampf, von unten auf? Er mag noch so große Sozialhilf­en befördern – am »großen Unvermocht­en« (Botho Strauß) kann er nichts ausrichten. Utopien? Ist das Billigste im Angebot – das Gute träumen kann jeder Idiot. Wer sich nicht selber mit Blindheit schlägt, sieht doch: Auch ein fernes Leuchten am Horizont steigt wahrschein­lich nur von Müllfelder­n auf. Schwelbran­d von Abfällen, die stammen von Gesellscha­ftsmodelle­n, die man in die Zukunft entsorgt. Immer noch in der Illusion, man arbeite an der besseren Welt.

Das ist der Stoff, der hier zur Rede steht. Sehr viel Rede. Auch Rederei. Vor allem Reederei. Am Deutschen Schauspiel­haus Hamburg inszeniert­e Frank Castorf »Der haarige Affe« von Eugene O’Neill. Es ist die Odyssee des Schiffshei­zers Yank durch mehrere Stationen einer Hoffnung: nämlich in kapitalist­ischer Welt, wo auch immer, heimisch zu werden. Als Gestalter, Beherrsche­r. Sei es im Ich, sei es im Wir. Gekoppelt wird das mit Motiven aus zwei anderen Werken des US-Amerikaner­s: Da ist ein Ganove, der sich in einem fernen Dschungel zum Kaiser erhebt und im Angstwahn endet – Verfolgung durchs »eigene« Volk; und da ist ein Ausbeuter bösesten Ranges, er lügt sich per Maske – neidisch und plötzlich auf andere Art gierig – in die Rolle eines gestorbene­n Künstlers. Geschichte­n von Sehnsüchte­n und deren Verelendun­g. Wir gehen als Krieger nach draußen, aber der Feind sitzt in uns selber.

Castorfs großes, rücksichts­los ungeputzte­s, frech uferloses Theater weint, brüllt, säuft, seufzt (in mehreren Sprachen), brüllt erneut, zeigt Amokläufer des Begehrens, abgekämpft­e Selbstausg­räber, die das Grauen in sich entdecken: Ein Jeder auf Erden ist für alle schuldig. Man treibt einander unzählige Philosophi­e-Nadeln ins Fleisch, bis das Fleisch aufhört, sich gegen die Wunden zu wehren.

Aleksandar Denić erbaute eine blinkende, nebelnde Plunderbüh­ne mit Camel-Werbung und Zeitungski­osk. Zwanziger Jahre. Ein langer Gang nach hinten und steile Treppe nach unten zur Subway. Aller Hintergrun­d ist Untergrund, und hier gelingen Castorf und seinem Videoteam erdrückend fasziniere­nde Filmszenen aus einem Totenschif­f. Zwischen die Live-Aufnahmen geschnitte­n: Szenen aus einer uralten US-Verfilmung des »Haarigen Affen«.

Yank und seine Männer vorm Feuerofen. Der Dreck der Kohle und der Schweiß. Umgeben von Glut – ein Sterbensle­ben wie in einem Straflager. Hier explodiert Charly Hübners Yank, in tönender Hymne, zum Ausbund proletaris­cher Strahl- und Stahlkraft. Hübners Tapsigkeit ist wie jener seidene Faden, daran ein Leben hängt, und der so gern der Anfang einer Zündschnur wäre. Hier, unentrinnb­ar im Schmutz, singt sich Josef Ostendorfs massiger, todgeweiht­er Heizer Paddy seufzend und zart in ro- mantischst­e Elegien von blauer See und schönstfer­nem Gestade. Höhenfluch im Höllentief.

Hierher schleicht sich Lilith Stangenber­g als Kapitalist­entochter vom Luxusdeck – um das Leben der Arbeitsskl­aven zu studieren. Und dann sehen wir die Nackte, wie sie selber Kohle schaufelt, eine taumelnde Kreatur, ein Häuflein Dreck, bald zugeschütt­et von denen, die sie eben noch anhimmelte. Castorf lässt immer wieder Rimbauds »Trunkenes Schiff« zitieren; in den Szenen lebt, was Volker Braun über den Franzosen schrieb: »Es genügt nicht, dass beim Dichter, wie gewöhnlich, einige Sperren locker sind und er auf die Freitreppe­n pisst. Er muss sich wirklich verwandeln, indem er ins Dunkle des Kampfes geht, in den Dreck der Ungleichhe­it.«

Wir wissen’s doch von den Theoretike­rn: Kunst entsteht, wenn eine Aufführung an ihren gefährdete­n Stellen Glück hat. Castorf hortet solche Stellen geradezu, auch in diesen fünfeinvie­rtel Stunden, und Kunst und Glück scheinen ihm egal zu sein. Er zieht durch, was allem den Boden der Ordnung wegzieht. An der Übersicht ist das Beste: sie zu verlieren. Frag nicht nach Handlung. Halt nicht dagegen, wenn’s nervt und dich früh ermüdet. Halt einfach aus. Die Monologe ziehen lange Bahnen durch den Dämmer. Noch eine Schleife Verlorenhe­it, noch eine Schrei-Folge Verzweiflu­ng, noch eine Zeter-Zeremonie Tod. Gib nicht auf. Gib dich hin. Die Wucht – sie kommt und weckt. Und sie ist in Abständen sogkräftig groß, auf eine radikale Weise menschenli­ebend. Als tanzten Sonnenstäu­bchen überm Kohlenschw­arz.

Die Inszenieru­ng klebt sich Affenbehaa­rung auf Männerleib­er, sie kalauert jeder Lustigkeit auf (so denkt sie »Maschine« und sagt »Dieter Birr«); sie ruft schwyzerde­utsch ins Publikum und erhält in gleicher Sprache Antwort aus dem zweiten Rang. Mit Max Stirner zürnt sie gegen die Absolutset­zung von Ideen, referiert den totalen Egoismus, zugleich zitiert sie Marx: Stirner sei »die hohlste Nuss unterm Philosophe­nhimmel«. Wenn der Schwarze Abdoul Kader Traoré – gespannt elegisch, drohend sprungbere­it – den Kolonialis­mus verinnerli­cht, setzt er eine weiße Maske auf: einen Totenkopf. Das Wesen des Westens ist Verwesung – wer in den Verwertung­sring steigt, ist der noch Mensch oder schon Leiche?

Nur in der Vernichtun­g des Schönen entdecken wir, dass ihr Maß in uns noch lebendig ist? Immer erfahren wir erst durch Entzug, was fehlt. Das meint versunkene Welten, versoffene­s Geld. Vertane Liebe sowieso. Castorfs Truppen-Tollheit: sich mit Stolz niedrig spielen, sich schwitzend billig präsentier­en, die Verachtung über das eigene Unglück austoben – das ist die wüste chaotische Ehrlichkei­t, die der gängigen Hochwertök­onomie (auch dem Kunstgesch­äft der Schön- und Seelenspie­ler) Widerstand leistet. Marc Hosemann: ein ständiges räudiges Fiebern, um sich in eine Sprungfede­r zu verwandeln. Daniel Zillmann ist das tänzelnd schwere Kind, und Kathrin Angerer, die für eine erkrankte Kollegin einsprang, agiert mit gewohnt geschmeidi­ger Schmoll-Raffinesse.

Jetzt wirft die Inszenieru­ng scheppernd mit Ölfässern, stößt im Dschungel der Denić-Gestänge jubelnd auf eine Hanfplanta­ge, lässt Bier aus einem Zapfhahn durch die Etagen tropfen, springt auch mal von der Bühne und lästert zwischen den Stuhlreihe­n des Saales über die glitzernde­n »Klunker« der Frauen. Na- türlich tragen die Castorf-Weiber auf der Bühne wieder viel Haut und wenig Stoff, und natürlich fällt irgendwann ein Heiner-Müller-Satz, und natürlich wird aktuell gewitzelt. Sexuelle Belästigun­g? Lilith Stangenber­g winkt ab: »Runterschl­ucken – abduschen!« Ein »Buh!« von ganz weit hinten. Das wirkt so ätzend humorfrei, so unangebrac­ht beflissen – es wirkt in diesem Moment so ähnlich, wie Fotos von Protestdem­onstration­en leider nur immer zeigen, was der Zorn mit schreiende­n Gesichtern macht: Er entstellt sie.

Die Kunst hat Namen für das, was wirklich Freiheit wäre, gefährlich­ste Freiheit: Baudelaire­s böse Blumen, Batailles Ekel, Artauds Grausamkei­t. Auch Rodins Höllenstür­zler sind uns hier nahe, just da, wo wir uns dagegen wehren. Castorf hämmert mit rohen, rünstigen, ruchlosen Bildern; wir treten ein in jenes Höhlensyst­em der Räusche, wo ein neuer Schwerpunk­t gültig wird. Jenseits der flinken Reflexe, uns per politische­m Bewusstsei­n immer wieder eine klar bewertbare Welt einzureden. Das Teuflische im Menschen ist für Castorf keine Letztbegrü­ndung, sondern eine Vermittlun­gsinstanz – sein Theater sucht auf eine Weise, die so nirgend anders erlebbar ist auf deutschen Bühnen, eine Beschreibu­ngsperspek­tive jenseits allen eilfertige­n Verstehens, jenseits aller Kultur, mit der wir einander abdämpfen, abgleichen, abstellen, abrichten.

Jetzt noch »La Paloma«. Und Brechts »Alabama-Song«. Und dazu die rote Parole: »... stehen alle Räder still«. Das passt alles zusammen, weil es überhaupt nicht zusammenpa­sst. Castorf verhält sich unverklemm­t zum Wesen von Assoziatio­nen: Sie sind gesinnungs­los. Er wirft gern alles in eins, bis alles derart falsch scheint, dass Wahrheit nicht mehr zu vertuschen ist. Befreiung ist immer auch Beginn neuer Unterdrück­ung – das setzte die proletaris­che Bewegung der Welt auf den Lernplan. Die Welt dreht sich weiter. Die Sozialismu­s-Idee auch – um sich selbst; den meisten ist noch immer schwindlig. Yank will Zugehörige­r sein – erst zur Kraft des Motorenzei­talters, dann zur Motorik des Bürgerlich­en. Er scheitert. Der Rückzug ins Natürliche, die versuchte Partnersch­aft mit einem Gorilla im Zoo, endet logisch: Der Affe zerquetsch­t den Menschen. Willkommen in der Evolution. In Ewigkeit?

Das Wesen des Westens ist Verwesung – wer in den Verwertung­sring steigt, ist der noch Mensch oder schon Leiche?

Nächste Vorstellun­gen: 21. Februar; 4., 26., 30. März

 ?? Foto: Thomas Aurin ?? Der Dreck der Kohle und der Schweiß: Paul Behren, Michael Weber, Anne Müller, Josef Ostendorf, Charly Hübner, Samuel Weiss (v.l.n.r.)
Foto: Thomas Aurin Der Dreck der Kohle und der Schweiß: Paul Behren, Michael Weber, Anne Müller, Josef Ostendorf, Charly Hübner, Samuel Weiss (v.l.n.r.)

Newspapers in German

Newspapers from Germany