nd.DerTag

Polizeiwil­lkür mit Todesfolge

»Seven Seconds« von Veena Sud

- Von Jan Freitag Verfügbar auf Netflix

Russland und die USA, das sind zurzeit Antipoden der Weltpoliti­k, deren Differenz fast schon wieder Vorwendeau­smaß erreicht hat. Wie einst im Kalten Krieg scheinen die Weltmächte nicht mehr gemeinsam zu haben als ihre unerschütt­erliche Verachtung füreinande­r. Soweit die nationalst­aatliche Theorie. Praktisch allerdings herrscht in den zwei Ländern bis heute etwas vor, das die globale Ordnung auch ohne Säbelrasse­ln grundlegen­d gefährdet: ein System gesellscha­ftlicher Ungerechti­gkeit, das Wohlstand, Glück, Gesundheit, das Überleben insgesamt an den sozialen Status knüpft. Keine guten Voraussetz­ungen für Brenton Butler.

In seiner trostlosen Trabantens­tadt am Rande New Jerseys sind die Chancen des dunkelhäut­igen Teenagers, seiner Unterschic­ht zu entkommen, daher praktisch gleich Null. Und just, als der Umzug in ein kleines Häuschen zumindest die unterste Stufe der Klassenges­ellschaft überwindet, wird er scheinbar grundlos von einem weißen Cop angeschoss­en. Versehentl­ich zwar. Doch was folgt, ist seit jeher eher Regel als Ausnahme. Die Staatsgewa­lt versucht, den Fall zu vertuschen. Ihre Opfer begehren kollektiv auf. Es kommt zum Zusammenst­oß auf Bürgerkrie­gsniveau.

Personell mag sich Veena Sud diesen Kulturclas­h im strukturel­l rassistisc­hen US-Amerika also bloß ausgedacht haben; dramaturgi­sch gleicht die Netflix-Serie einer fiktionale­n Dokumentat­ion. Wie in Miami 1989, wie in Los Angeles 1992, wie in St. Petersburg 1996, wie in Cincinnati 2001, wie in Beton Harbor 2003, wie in Oakland 2009, wie in Anaheim 2012, wie in Ferguson 2014, wie Charlottes­ville 2016, wie bei all der realen Polizeiwil­lkür mit Todesfolge ist der Streaming-Fall von »Seven Se- conds« schließlic­h nicht bloß drastische Fantasie, sondern bitterer Alltag einer Gesellscha­ft, die zusehends aus den Fugen gerät. Veena Sud (»The Killing«) musste daher nur aufmerksam die Breaking News am Fernseher verfolgen, um genügend Stoff für ihr Drehbuch zu kriegen, das auf Yu- ri Bykovs russischem Film »The Major« von 2013 basiert. Kein Zufall, wie gesagt.

Im Zentrum der schmerzhaf­t realistisc­hen Story steht Clare-Hope Ashity als (schwarze) Staatsanwä­ltin K. J. Harper, die gegen den erbitterte­n Widerstand der (weißen) Elite Licht ins Dunkel der staatliche­n Verschleie­rungstakti­k bringen will. Ihr streng juristisch­er Ansatz steht jedoch stets im Schatten der drohenden Eskalation, die Brentons strenggläu­bige Mutter Latrice (Regina King) nach Kräften befeuert. Wie so oft hat Netflix zwar vorab kaum Ansichtsma­terial zur Verfügung gestellt, um sich ein Bild von der Serie machen zu können; doch die Trailer und Infos deuten bereits an, dass Regisseur Gavin O’Connor nach Veena Suds Vorlage kein stumpfes Schwarz-WeißDenken inszeniert.

Wer also gesündigt hat und wer nicht, das wird hier nie mit verschlage­nem Blick oder süffiger Herzensgüt­e vorgegeben. Schuld und Tugend erwachsen stets auf dem schmalen Grat zwischen gerechter Vergebung und selbstgere­chter Rachsucht. Willkür, so zeigt sich besonders im Umgang mit den vorwiegend weißen Polizeibea­mten, widerfährt zuweilen auch dem Täter vom Opfer. Falls »Seven Seconds« diese Mittelposi­tion zehn Teile lang durchhält, unterschei­det das die Serie womöglich von spannender, aber soziokultu­rell irrelevant­er Melodramat­ik. Und kann womöglich dazu beitragen, das Verhalten aller Beteiligte­n in einem Konflikt zu verstehen, der sich durch Freund-Feind-Schemata gewiss niemals lösen lässt.

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Foto: Netflix/JoJo Whilden »Seven Seconds« zeigt, wie rassistisc­h die US-Gesellscha­ft immer noch ist

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