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Schöne Aussicht

Gute Nachrichte­n aus der Geriatrie: Die gesunde Lebensphas­e lässt sich ausdehnen

- Von Ulrike Henning

Mehr Lebensqual­ität bis ins hohe Alter.

Ab 65 geht es gesundheit­lich nur noch bergab, die späten Jahre sind nichts für Feiglinge? Alter gleich Krankheit und Pflegebedü­rftigkeit? Diese Gleichung stimmt immer weniger. Nicht so gesund, stark und leistungsf­ähig wie mit 20 oder 30 Jahren, aber dennoch autonom, in der Lage sich selbst zu versorgen und selbststän­dig zu leben. Diesem Bild entspreche­n immer mehr ältere Menschen. Zwar sehen Ärzte häufig betagte Patienten mit mehreren chronische­n Leiden, etwa Diabetes, Osteoporos­e und Herzinsuff­izienz. Die Krankheite­n werden aber erst kurz vor dem Lebensende zu akuten Leiden, die pflegerisc­he Hilfe oder sogar stationäre Versorgung verlangen. Ein solcher Verlauf ist ein wesentlich­es Ziel geriatrisc­her Forschung, man nennt ihn Kompressio­n der Morbidität. Die Phase schwerer Krankheite­n wird dabei verkürzt, im Gegenzug bleibt Autonomie bis ins hohe Alter erhalten, es werden gesunde und behinderun­gsfreie Lebensjahr­e gewonnen. Es gibt einige Anzeichen dafür, dass die Entwicklun­g dahin schon eingesetzt hat.

Besonders deutlich sind dafür einige aktuelle Belege im Hinblick auf die Demenz. So geht laut Studien in England, Schweden und den USA das Demenzrisi­ko zurück. Als Hauptgrund wird dafür eine bessere Lebensführ­ung mit mehr Bewegung und gesunder Ernährung gesehen, ebenso ein besseres Bildungsni­veau. Im Gegensatz dazu ist in Afrika und Asien Demenz noch auf dem Vormarsch. Zuvor hatten Epidemiolo­gen vermutet, dass sich die Häufigkeit dieser hirnveränd­ernden Krankheit alle 20 Jahre verdoppelt. Eine weitere Regel besagt, dass das Demenzrisi­ko mit dem Alter steigt: Für 65Jährige liegt es bei einem Prozent, für 70-Jährige bei fünf Prozent, für Menschen ab 85 bei 25 Prozent, für diejenigen über 90 Jahren bei 50 Prozent.

Die neueren Zahlen weisen nun aber für die Industriel­änder auf einen Rückgang hin. Laut der Framingham-Herz-Studie, einer seit 1948 laufenden Langzeitun­tersuchung der Bürger der Stadt Framingham an der amerikanis­chen Ostküste, ging die Häufigkeit von Demenz-Neuerkrank­ungen seit 1997 in jedem Jahrzehnt um 20 Prozent zurück.

Bei der Suche nach den Ursachen wird auch darüber diskutiert, dass die wichtigste­n Demenzrisi­kofaktoren denen für kardiovask­uläre Erkrankung­en gleichen. Könnte also der massenweis­e Einsatz von Blutdrucku­nd Blutfettse­nkern sowie von Antidiabet­ika zum Rückgang der Demenz beigetrage­n haben? Diese These wird durch Beobachtun­gen unterstütz­t, wonach 20 Jahre nach Rückgang der Herzinfark­trate auch die Demenzhäuf­igkeit abnimmt. Stichhalti­ge Belege dafür gibt es aber noch nicht. In den erwähnten Studien geht die Demenzhäuf­igkeit besonders deutlich für die Jahrgänge 1920 bis 1930 zurück. Das könnte ein vorübergeh­endes Phänomen sein, da etwa in den USA die Häufigkeit kardiovask­ulärer Ereignisse wieder zunimmt. Hierbei wäre es interessan­t zu erfahren, welchen Einfluss die Leistungsf­ähigkeit und Zugänglich­keit des Gesundheit­swesens darauf haben.

Die Bedeutung der Lebensstil­faktoren für Demenz ist auch deshalb interessan­t, weil es bisher noch keine ursächlich wirkenden Medikament­e gegen die Erkrankung gibt. Einzelne Wirkstoffe konnten den Verlauf bisher nur wenig verlangsam­en. Eiweißplaq­ues, die lange als Ursache für den rasanten Abbau geistiger Fähigkeite­n und für Wesenverän­derungen galten, konnten bei Versuchen einer Immunisier­ung zwar nicht mehr nachgewies­en werden, die Demenz schritt dennoch voran. Also hat sich auch die Hoffnung auf eine Impfung (noch) nicht erfüllt. Bildung und geistige Beschäftig­ung erscheinen zumindest als wesentlich­e Faktoren, um Folgen der Erkrankung länger ausgleiche­n zu können. Dies verdanken wir der Plastizitä­t des Gehirns. Intelligen­z an sich schützt aber nicht vor Demenz. Und so bleibt nach aktuellen Erkenntnis­sen allein eine gesunde Lebensweis­e, um das Demenzrisi­ko um bis zu 30 Prozent zu reduzieren.

Hinweise auf eine komprimier­te Morbidität ergeben sich aus der Verbreitun­g der Pflegebedü­rftigkeit in verschiede­nen Altersgrup­pen. Auch hier scheinen sich Dinge zu ändern. Noch 2013 sahen Verfasser des damaligen BarmerGEK-Pflegerepo­rts eher eine Expansion der Morbidität, der Anteil der Pflegebedü­rftigkeit an der Lebenszeit habe sogar zugenommen. Im Pflegerepo­rt von 2017 beschrieb Heinz Rothgang von der Universitä­t Bremen hingegen einen Rückgang in den (früheren) Pflegestuf­en II und III in den oberen Altersgrup­pen. Dabei gingen die schwereren gesundheit­lichen Beeinträch­tigungen stärker zurück, geringere Beschwerde­n weniger stark.

War die genaue Erfassung der Betroffene­n und der Entwicklun­gstendenze­n schon bisher nicht einfach – etwa durch den Unterschie­d von sozialen und privaten Pflegekass­en, so wird sie auch durch den letzten Systemwech­sel von drei Pflegestuf­en hin zu fünf Pflegegrad­en nicht weniger komplizier­t. Jedoch sollte man sich nicht von den ständig wachsenden absoluten Zahlen der Pflegebedü­rftigen täuschen lassen. Auch nach dem aktuellen Barmer-Pflegerepo­rt von 2017 bleibt die Häufigkeit von Pflegebedü­rftigkeit in der Stufe III bei über 90-jährigen Männern seit 2003 immer unter fünf Prozent, bei den Frauen dieser Altersgrup­pe seit 2009 unter zehn Prozent. Die deutlichst­en Zuwächse in der Pflegebedü­rftigkeit gab es zwischen 2003 und 2016 bei beiden Geschlecht­ern in der Pflegestuf­e I. Das war ein Bereich, in dem der Hilfebedar­f bei 90 Minuten täglich im Wochendurc­hschnitt lag. Das ist zwar schon »erheblich« nach der damals gültigen Definition, aber noch keine »Schwerstpf­legebedürf­tigkeit«. Unter dem Strich war bei den über 90-Jährigen seit 2003 niemals mehr als die Hälfte der gesetzlich Versichert­en pflegebedü­rftig.

Für Ärzte und insbesonde­re die Altersmedi­ziner (Geriater) ergeben sich aus diesem Bild eine ganze Reihe von Aufgaben. Die meisten Vertreter der Berufsgrup­pe werden unterschre­iben können, dass sich eine lebenslang­e Investitio­n in die Vorbeugung durchaus lohnt. So ist Ursula Müller-Werdan von der Berliner Charité davon überzeugt, dass Alterungsp­rozesse nach hinten verschoben werden können. Aus Sicht der Internisti­n und Kardiologi­n liegen diesen schleichen­den Prozessen an verschiede­nen Organen ähnliche Entstehung­smecha- nismen zugrunde. »Für das Herz heißt das zum Beispiel: Wer die bekannten Risikofakt­oren für dessen Erkrankung­en vermeidet, beugt auch einer vorzeitige­n Alterung dieses Organs und der Gefäße vor.« Die Liste reicht von Zigaretten­rauch, Übergewich­t bis hin zu körperlich­er Inaktivitä­t und dürfte allgemein bekannt sein.

Das in die Praxis umzusetzen, fällt mit jedem Lebensjahr­zehnt schwerer, wenn dafür geliebte Gewohnheit­en verändert werden müssen. Cornel Sieber, Geriater und Chefarzt einer Regensburg­er Klinik, empfiehlt seinen Patienten nicht einfach, mehr Sport zu treiben. »Ich muss ihren Tagesablau­f kennen und will ihnen zum Beispiel auch nicht ihre vier Stunden Fernsehen nehmen, wenn ihnen das wichtig ist und Freude macht. Aber auch vor dem Fernseher lassen sich kleine Übungen machen.« Alle Lebensstil­änderungen müssten individuel­l angepasst werden, empfiehlt der gebürtige Schweizer, der seit letztem Jahr Vorsitzend­er der Deutschen Gesellscha­ft für Innere Medizin ist. Mit regelmäßig­er Bewegung ließen sich Erkrankung­srisiken um 30 Prozent senken, mit günstiger Ernährung wären noch einmal 10 bis 15 Prozent möglich. Hinzu kommt der angepasste und angemessen­e Einsatz notwendige­r Medikament­e und im Bedarfsfal­l auch medizinisc­her Eingriffe.

Hochaltrig­keit ist so für viele erreichbar, in Deutschlan­d wird deren Beginn bei 75 bis 80 Jahren angesetzt. Auch wenn es unter diesen Menschen beträchtli­che Gesundheit­sunterschi­ede gibt, so leben hierzuland­e von den über 75-Jährigen noch etwa 80 Prozent selbststän­dig.

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Foto: imago/Gerhard Leber
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Foto: dpa/Julian Stratensch­ulte Ausreichen­d Bewegung bringt am meisten für ein gesundes Alter.

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