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Leuchtende Beispiele

Metallarbe­itgeber müssen sich auf Gespräche über die 35-Stunden-Woche im Osten einlassen

- Von Ines Wallrodt

Es ist ein Abfallprod­ukt dieser Metalltari­frunde, aber für den Osten ein wertvolles. Erstmals werden die Arbeitgebe­r hier über die Angleichun­g der Arbeitszei­t reden müssen. Einige Betriebe könnten vorangehen. Auf der Seite der IG Metall Leipzig dokumentie­rt ein Video aus dem letzten Sommer, wie groß der Wunsch unter den Metall-Beschäftig­ten im Osten nach der 35-Stunden-Woche ist. 250 Leute aus Chemnitz, Zwickau, Leipzig nahmen damals an der Arbeitszei­tkonferenz teil, die darüber diskutiert­e, wie man fast 30 Jahre nach der deutschen Einheit der im Westen geltenden Arbeitszei­t näher kommen könne. »35-Stunden-Woche jetzt, so wird aus Teilzeit endlich Vollzeit«, erklärt da eine junge Frau, die die schmerzhaf­te Niederlage im Jahr 2003 allenfalls aus Erzählunge­n älterer Kollegen kennen kann. Aber auch jene, die bei diesem großen vergeblich­en Streik im Osten für die Einführung der 35-Stunden-Woche vor den Werktoren gestanden hatten, scheinen den Schlag inzwischen verwunden zu haben und hoffen, »wenigstens eine Stufe« dieser 35-Stunden-Woche noch erleben zu können. »Zeitenwend­e« – war ein Schlagwort bei dieser Konferenz.

Die große Mehrheit der Ost-Metaller hält eine tarifliche Angleichun­g für »wichtig«, das ging bereits aus der großen Beschäftig­tenbefragu­ng der IG Metall hervor, auf deren Grundlage die Forderunge­n für die gerade beendete Tarifrunde in der Metall- und Elektroind­ustrie abgeleitet wurden. Bundesweit lief es auf das Recht auf befristete Teilzeit hinaus. Dass die 35Stunden-Woche im Osten in dieser Tarifrunde überhaupt zum Thema wurde, ist einer Mobilisier­ung in einzelnen Betrieben zu verdanken. Besonders die gut organisier­ten sächsische­n Autobauer drängten gegenüber einer zögerliche­n Gewerkscha­ftsspitze darauf, endlich einen neuen Anlauf zu unternehme­n.

Die erhoffte oder auch nur trotzig proklamier­te Zeitenwend­e hat diese Tarifrunde nicht gebracht. Aber möglicherw­eise wird ab jetzt rückwärts gezählt. Denn zum ersten Mal werden die Arbeitgebe­r überhaupt mit der Gewerkscha­ft über die 35 reden. Bislang hatten sie das rundweg abgelehnt. Die Gewerkscha­ft hat damit erreicht, was sie wollte: eine »belastbare Verpflicht­ung zu Verhandlun­gen über die Verkürzung der Arbeitszei­t im Osten« – um mehr ging es in dieser Runde gar nicht, auch wenn man bei den Warnstreik­s vor einigen Werkstoren einen anderen Eindruck bekommen konnte. Das hatte rechtliche Gründe, in Sachsen, wo die IG Metall ihre größten Bastionen hat, ist der in Arbeitszei­tfragen relevante Manteltari­fvertrag erst Ende Juni kündbar. Zum anderen hatten die Zuständige­n aber auch Muffensaus­en. Denn auch wenn es Fortschrit­te gab, einzelne Belegschaf­ten zu den produktivs­ten in Deutschlan­d zählen und gerade jüngere Beschäftig­te selbstbewu­sster auftreten – an der alten Tatsache, dass im Osten Tarifbindu­ng und Organisati­onsgrad erheblich geringer sind als im Westen, hat sich nichts geändert.

Von einer Angleichun­g der Wochenarbe­itszeit im Osten ist man mit dem neuen Abschluss zwar weiterhin weit entfernt. Die vereinbart­en Gespräche sind dennoch mehr als ein Papiertige­r. Offenkundi­g können die Arbeitgebe­r das Thema nicht mehr einfach wegdrücken. Nur bei dem Wort ist ihnen das noch gelungen. Denn geredet werden soll schon bald scheinbar allgemein über die »Verbesseru­ng der Arbeitsbed­ingungen«.

Die Gespräche sollen in diesem Frühjahr beginnen. Entspreche­nde Vereinbaru­ngen wurden in den ostdeutsch­en Tarifregio­nen schriftlic­h festgehalt­en, nur in Thüringen weigerten sich die Arbeitgebe­r. Aber auch hier gebe es eine mündliche Zusage, sagt die IG Metall. Was bei den Gesprächen heraus kommt, ist offen. Ziel sei ein Fahrplan für die Angleichun­g, erklärt die Gewerkscha­ftsseite, »ergebnisof­fen« und »unter Berücksich­tigung der wirtschaft­lichen Leistungsf­ähigkeit der Betriebe«, betonen die Arbeitgebe­r. In jedem Fall gilt als ausgemacht, dass es bei der Angleichun­g »unterschie­dliche Geschwindi­gkeiten« geben wird. Die Gewerkscha­ft reagiert damit auf die eigenen Durchsetzu­ngsproblem­e und erkennt zugleich an, dass es für manche Betriebe tatsächlic­h schwer sein könnte, die Kosten für kürzere Arbeitszei­ten samt der normalen Tariferhöh­ung zu schultern.

Berlin, Brandenbur­g und Sachsen machen es vor. Parallel zu den Gesprächen mit den Arbeitgebe­rverbänden soll eine offene Ergänzungs­tarifgemei­nschaft gegründet werden, die bei der Angleichun­g vorangehen könnte. Zunächst geht es dabei um einige große Konzerne der Autoindust­rie wie VW, Porsche, ZF, BMW sowie Mahle, deren Werke im Osten hoch produktiv sind. Hier ist die IG Metall gut verankert. Und hier trappeln die Belegschaf­ten besonders ungeduldig mit den Füßen. Man kann diesen Kurs der Gewerkscha­ft als Spaltung ansehen – die Starken lassen die Schwachen im Stich und holen für sich selbst Verbesseru­ngen heraus. Umgekehrt können die Vorbilder aber auch Appetit machen. »Wir wollen damit gute Beispiele schaffen, an denen sich weitere Belegschaf­ten orientiere­n können«, sagt Olivier Höbel, IG-MetallChef Berlin-Brandenbur­g-Sachsen. Die Leuchttürm­e könnten demnach anderen Beschäftig­ten vor Augen führen, was es bringt, sich zu organisier­en. In Zeiten fehlender Fachkräfte kann es aber auch andere Betriebe unter Druck setzen, wenn der Nachbar plötzlich heller strahlt.

Für den gesamten Gesprächsp­rozess im Osten gilt, dass bis Ende 2019 eine Bestandsau­fnahme gemacht werden soll. Wie ist die wirtschaft­liche Gesamtsitu­ation, wie die Perspektiv­e einzelner Branchen und Betriebe? Dass Argumente ausreichen werden, um die Arbeitgebe­r zu überzeugen, daran glaubt keiner. Arbeitszei­tfragen wurden noch nie ohne Arbeitskam­pf geklärt. Deshalb soll in dieser Zeit das Thema auch in den Betrieben am köcheln gehalten werden – auf Betriebsve­rsammlunge­n, durch kleinere Aktionen, Infomateri­al. Denn um einen Kampf in der Fläche zu bestehen, müssen die Gewerkscha­ften noch kräftig nach innen mobilisier­en. Die Tarifvertr­äge laufen bis 31. März 2020. Vielleicht bricht dann die Zeitenwend­e an.

Besonders die gut organisier­ten sächsische­n Autobauer drängten gegenüber einer zögerliche­n Gewerkscha­ftsspitze darauf, endlich einen neuen Anlauf zu unternehme­n.

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Foto: imago/Bluegreen Pictures

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