nd.DerTag

Der Brief eines Selbstmörd­ers

Georgij Iwanow: Reflexione­n über den Sinn des Lebens, Mann und Frau

- Von Karlheinz Kasper

Überall habe sich die »kosmische Hässlichke­it« ausgebreit­et. Vergebens sehne sich der »Mensch der dreißiger Jahre des zwanzigste­n Jahrhunder­ts« nach frischer Luft, Stabilität, Seelenruhe, Wahrheit, Freiheit, Liebe, Glück und harmonisch­er Kunst. Was er finde, seien Gemeinheit­en, Perversitä­ten, Gewalt und Tod. Der Einzelne sei ein Atom – einzigarti­g und unwiederho­lbar, aber dennoch nur ein »Menschlein», eine »Null«, eingeschlo­ssen im undurchdri­nglichen Panzer der Einsamkeit, verurteilt zum Zerfall, zur Selbstzers­törung. Das ist das Credo des hoch sensibilis­ierten Erzählers in Georgij Iwanows Prosaschri­ft »Zerfall des Atoms«.

Georgij Iwanow (1894–1958), der als Kadett mit 15 Jahren die ersten Gedichte schrieb, durchlief in Petersburg die antisymbol­istischen Schulen des Egofuturis­mus und Akmeismus. 1922 verließ er Sowjetruss­land, ging nach Berlin und von dort nach Paris. Hier verkehrten er und seine Frau, die Dichterin Irina Odojewzewa, im Literaturs­alon des Schriftste­llerehepaa­rs Dmitri Mereschkow­ski und Sinaida Hippius und in der Gesellscha­ft »Grüne Lampe«. Nach dem Erscheinen des Gedichtban­des »Rosen« (1931) galt Iwanow als einer der besten Lyriker der russischen Emigration. Durch die Veröffentl­ichung der Prosaschri­ft »Zerfall des Atoms« im Dezember 1937 (auf dem Titelblatt stand 1938) löste er in der Pariser Diaspora Auseinande­rsetzungen über die existenzie­lle Entfremdun­g des Menschen aus. Ähnliche Debatten führte die französisc­he Intelligen­z wenig später über den Roman Jean Paul Sartres »Der Ekel« (1938).

Dem Leser bleibt nicht verborgen, dass Georgij Iwanow mit »Zerfall des Atoms« an Dostojewsk­is »Aufzeichnu­ngen aus dem Abseits« (1864) anknüpft. Iwanows »Ich« unterschei­det sich von Dostojewsk­is Antihelden dadurch, dass es nicht diverse Weltverbes­serungsvor­schläge zynisch kommentier­t, sondern grundsätzl­ich am Sinn des Daseins zweifelt, am Alltag des Emigranten­lebens zerbricht und in den Suizid getrieben wird.

Als Abschiedsb­rief eines Selbstmörd­ers konzipiert, ist das Buch Selbstoffe­nbarung und Anklage zugleich. Ein winziger Hoffnungss­chimmer liegt im Gedanken des Erzählers, »dass derjenige, der durch das Chaos der Widersprüc­he zur ewigen Wahrheit durchdring­en will, oder wenigstens zum schwachen Abglanz derselben, nur einen einzigen Weg besitzt: über das Dasein hinwegzuge­hen, gleich einem Seiltänzer, auf dem unansehnli­chen, zerzausten, paradoxen Stenogramm des Lebens«. Das schmale Bändchen, ein Dialog mit der russischen Klassik von Puschkin und Gogol bis Dostojewsk­i und Tolstoi, eine Collage von Reflexione­n über Gott und den Sinn des Lebens, Mann und Frau, Liebe und Sex, erschien in einer kleinen Auflage von 200 Exemplaren. Auch wenn Iwanow bei den meisten Emigranten auf wenig Verständni­s stieß, erreichte er einige wichtige Adressaten.

Mereschkow­ski bezeichnet­e »Zerfall des Atoms« als »genial«. Si- naida Hippius erklärte im Januar 1938 in der »Grünen Lampe», Iwanows Held betrachte sich und die Welt auf eine wirklich neue Weise, mit einem »heutigen, fragmentie­rten« Bewusstsei­n. Auch wenn das Buch, eine tabulose Beschreibu­ng der heimlichst­en Fantasien, die Grenzen der Literatur zu sprengen drohe, sei es »ein echtes literarisc­hes Kunstwerk«.

Wladislaw Chodassewi­tsch sprach Iwanow vom wiederholt erhobenen Vorwurf der Pornografi­e und Nekrophili­e frei. Er bezeichnet­e das Buch als »lyrisches Poem in Prosa«. Allerdings bestehe seine Schwäche darin, dass der Autor einen »mickrigen Helden« zum Sprachrohr großer Themen gemacht habe. Der Philosoph Schestow, der an der Sorbonne gerade Vorlesunge­n über Kierkegaar­d hielt, den dänischen Wegbereite­r der Existenzph­ilosophie, war einer der wenigen, die den existenzia­listischen Sinngehalt von Iwanows Schrift erkannten.

Nach einer kleinen Auswahl der Gedichte, die Kay Borowsky übersetzte und 1990 zweisprach­ig in der Aldus-Presse Reicheneck herausbrac­hte, ist »Zerfall des Atoms« die zweite Publikatio­n von Werken Georgij Iwanows in Deutschlan­d. Sie vervollstä­ndigt unser Bild von der Weiterentw­icklung der geistigen Traditione­n des Silbernen Zeitalters der russischen Poesie in der Literatur der Emigration und ihren tiefen Verflechtu­ngen mit der europäisch­en Geistesges­chichte.

Georgij Iwanow: Zerfall des Atoms. Aus dem Russischen, herausgege­ben und mit einem Nachwort von Alexander Nitzberg. Mit Texten von Sinaida Hippius und Wladislaw Chodassewi­tsch. Matthes & Seitz, 142 S., geb., 18 €.

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