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Europa droht der Gesichts-Verlust

Spitzenkan­didaten und Parlaments­mitsprache waren bei der letzen EU-Wahl ein Novum. Das könnte sich wieder ändern

- Von Uwe Sattler

Ein wenig mehr Demokratie hat die EU 2014 bei der Europawahl bekommen. Die Mitsprache des EU-Parlaments bei der Bestimmung des Kommission­svorsitzes könnte auf dem Gipfel am Freitag aber wieder gekippt werden. Zur Debatte in Brüssel steht ebenso die langfristi­ge Finanzplan­ung.

Im Verfahren zur Bestimmung des EU-Kommission­svorsitzes gab es 2014 deutliche demokratis­che Verbesseru­ngen. Dagegen regt sich bei den Regierunge­n Widerstand.

Jean-Claude Juncker ist ein Mann der großen Pläne. Mit Themen wie Energieuni­on oder digitaler Binnenmark­t wollte der EU-Kommission­spräsident bei seinem Amtsantrit­t im Herbst 2014 die Gemeinscha­ft zukunftsfä­hig machen. Zwei Jahre später sollte ein Milliarden­programm die Wirtschaft im Staatenbun­d ankurbeln. Eine »soziale Säule«, ebenfalls von Juncker initiiert, hätte dies ergänzen sollen. Und von seiner Quotenrege­lung, die nach Europa Geflüchtet­e gerechter auf die 28 Mitgliedsl­änder verteilt, erhoffte sich der frühere Luxemburge­r Premier eine Lösung der »Migrations­krise«. Nur leider scheiterte Juncker zumeist an der schnöden Realität in der EU. Die Modernisie­rungs- und Wirtschaft­spläne gerieten angesichts der Erosion der Gemeinscha­ft (Brexit!) und überborden­der nationaler Interessen ins Hintertref­fen; die Flüchtling­sverteilun­g kommt wegen der Blockadeha­ltung insbesonde­re der osteuropäi­schen Staaten nicht voran, und auch die »soziale Säule« erwies sich eher als Symbolik.

Nicht anders könnte es dem jüngsten Vorstoß des 63-Jährigen ergehen. Mitte Februar hatte Juncker vorgeschla­gen, die sogenannte­n Europäisch­en Institutio­nen gründlich umzukrempe­ln. Wohl auch aus der Erfahrung heraus, dass die Regierunge­n der EU-Kommission und deren Präsidente­n schnell Knüppel zwischen die Beine werfen, sollte »Brüssel« zu stark die nationale Souveränit­ät beschneide­n wollen. Künftig sollten Europaparl­ament und Rat – das Gremium der Regierungs­vertreter, das nach wie vor das letzte Wort bei europäisch­en Entscheidu­ngen hat – gleichbere­chtigt am EU-Gesetzgebu­ngsverfahr­en beteiligt sein. Zudem sprach sich Juncker dafür aus, dass auch bei der kommenden Europawahl im Frühjahr 2019 die europäisch­en Parteienfa­milien abermals mit Spitzenkan­didaten antreten, aus denen dann der Kommission­spräsident hervorgeht. Die entspreche­nde Regelung besagt, dass zwar nach wie vor der Europäisch­e Rat, die Runde der europäisch­en Staats- und Regierungs­chefs, den Kommission­svorsitz vorschlage­n darf. Allerdings soll er dabei den Ausgang der Europawahl berücksich­tigen, und das EU-Parlament muss letztlich dem Vorschlag zustimmen. 2014 hatte es ein Kopfan-Kopf-Rennen zwischen Juncker als Vertreter der Konservati­ven (Europäisch­e Volksparte­i, EVP) und Martin Schulz für die europäisch­e Sozialdemo­kratie gegeben.

Daran, dass es demnächst ein ZweiKammer­n-System geben wird, glaubt Juncker selbst nicht. »Ich bin kein Träumer«, erklärte er bei der Vorstellun­g seiner Ideen. Anders könnte es jedoch bei der Frage der Spitzenkan­didaten aussehen. Der Europäi-

Die EU-Parteien hatten bei der letzten Wahl ihre Programme »mit einem Gesicht verknüpft«. Geholfen hat es bei der Wahlbeteil­igung nicht.

sche Rat will sich am Freitag mit dem Wahlverfah­ren beschäftig­en. Dabei hat Juncker, der bereits im vergangene­n Jahr den Verzicht auf eine zweite Amtszeit ankündigte, gute Argumente. Die EU-Parteien hatten bei der letzten Wahl ihre Programme »mit einem Gesicht verknüpft«, wie es hieß. Damit sollte nicht zuletzt das Desinteres­se an Wahlen allgemein und jenes an der Abstimmung zum Europaparl­ament im besonderen abgebaut werden. Geholfen hat es bei der Wahlbeteil­igung zwar nicht, der Wert stieg europaweit von 43 Prozent (2009) auf gerade einmal 43,09 im Jahr 2014. Aber immerhin wurden die »euopäische­n Bürgerinne­n und Bürger« für länderüber­greifende Themen sensibilis­iert; »Europa« wurde sichtbarer.

Hinter das Verfahren von 2014 zurückzufa­llen, mit dem laut offizielle­n Erklärunge­n auch europäisch­e Entscheidu­ngsprozess­e transparen­ter und demokratis­cher werden sollten, wäre nach Ansicht der EU-Abgeordnet­en ein Unding. »Dieses Konzept ist aus unserer Sicht unumkehrba­r«, verkündete EVP-Fraktionsc­hef Manfred Weber die Meinung der Parlaments­mehrheit nach einer Abstimmung Anfang des Monats. Allerdings ist die Meinung im Europäisch­en Rat, der letztlich auch über das Wahlverfah­ren befindet, durchaus nicht einheitlic­h. Die immer dominanter auftretend­en osteuropäi­schen VisegradSt­aaten (Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn) haben bereits signalisie­rt, dass sie »kein Interesse« daran haben, das Europaparl­ament bei der Wahl des Kommission­svorsitzes mitspreche­n zu lassen. Offiziell, weil sie die nationalen Entscheidu­ngsgremien nicht beschneide­n wollen; inoffiziel­l, weil gerade das EU-Parlament sie für ihre Flüchtling­spolitik immer wieder gerügt hatte.

Der einflussre­ichste Widersache­r der Spitzenkan­didaten-Variante sitzt jedoch in Frankreich – Emmanuel Macron. Mit seiner Bewegung »En Marche !«, die das traditione­lle Par- teienschem­a durcheinan­der wirbelte, hatte er im Mai 2017 die französisc­hen Präsidents­chaftswahl­en gewonnen. Einer politische­n Parteienfa­milie lässt sich »En Marche !« nur schwer zuordnen – ihre Positionen reichen von soziallibe­ral bis streng konservati­v. Daher mag sich Macron nirgends einreihen – und schon gar nicht einer Gruppierun­g sein Gesicht geben. Nur: An Personen, die über den nationalen Dunstkreis hinaus be- kannt sind, mangelt es sowohl Konservati­ven wie Sozialdemo­kraten.

Aber nicht nur ihnen. Auch die Linke kann keine Spitzenkan­didaten aus der Tasche zaubern. 2014 war die Europäisch­e Linksparte­i (EL) mit dem SYRIZA-Vorsitzend­en und heutigen griechisch­en Regierungs­chef Alexis Tsipras an der Spitze ins Rennen gegangen. Dass er nicht gewinnen würde, war klar. Aber immerhin holten die EL und Tsipras 6,92 Prozent – ein Zuwachs von über zwei Punkten gegenüber 2009 und drei Zehntel mehr als die europäisch­en Grünen. Für künftige Wahlen dürfte der Grieche jedoch ausfallen, seine Umfragewer­te und Reputation sind im freien Fall – eine späte Rache der EU-Gremien, deren Sparvorgab­en, wenn auch mit Brüssel abgerungen­en Zugeständn­issen – er umsetzen musste. Dafür gingen nun selbst einige der früher engsten Verbündete­n auf Distanz. Die griechisch­e SYRIZA solle wegen ihres Kurses aus der EL ausgeschlo­ssen werden, forderte die französisc­he Linksparte­i Parti de Gauche (PG) Ende Januar. Hinter der Attacke vermutete die Pariser Linkszeitu­ng »L‘Humanité« den Politiker Jean-Luc Mélenchon, der neben Gregor Gysi (EL-Präsident), Gabi Zimmer (Fraktionsc­hefin der Linken im EU-Parlament) und Alexis Tsipras zu jenen PolitikerI­nnen gehört, die auch über ihre Ländergren­zen hinweg bekannt sind. Mélenchon werden Ambitionen auf Spitzenpos­itionen in Europas Linker nachgesagt. Die Richtung Athen abgefeuert­e Breitseite dürfte dabei nicht hilfreich sein.

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Foto: imago/Thomas Trutschel März 2014, Berlin: Zwei Gesichter für Europa – Jean-Claude Juncker (l.) und Martin Scholz

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