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Für eine Nacht in einem anderen Licht

Perspektiv­e Deutsches Kino: Der Dokumentar­film »draußen« porträtier­t einige obdachlose Männer

- Von Celestine Hassenfrat­z

Fein säuberlich legt Elvis den Schal des 1. FC Köln auf ein Tischchen. Streicht die Enden glatt und platziert dann präzise eine bunte Primel im Topf mittig auf dem Schal. »Ordnung muss sein, Ordnung liegt mir im Blut«, sagt er in breitestem Fränkisch. Dann kämmt er seine schulterla­ngen weißen Haare glatt nach unten. Obenrum trägt er eine Lederjacke mit ärmelloser Jeansjacke darüber. Hinten drauf: Elvis. Der echte. Patron, Vorbild, Idol. Im Hintergrun­d: Das Rauschen der Kölner Stadtautob­ahn, nasskaltes Wetter, Brückenpfe­iler. Seit Jahren schon lebt Elvis, der Mann, der sich so nennt wie der berühmte Rock ’n’ Roll-Musiker, hier draußen.

Draußen spielt der gleichnami­ge Dokumentar­film der beiden Kölner Regisseuri­nnen Johanna SunderPlas­smann und Tama Tobias-Macht, der soeben auf der Berlinale seine Premiere hatte. Neben Elvis werden drei weitere Männer, die ohne festen Wohnsitz leben, porträtier­t: Peter, Sergio und Matze. Ausgehend von ihrem gegenwärti­gen Rückzugsor­t, ihrem Schlafplat­z, bietet der Film, in dem die Männer von sich und ihrem Alltag erzählen, Einblick in die Innenwelt der Porträtier­ten.

Da ist etwa Matze, der mit 14 Jahren von zu Hause weglief, fortan auf warmen Rohren in staubigen Heizungske­llern schlief und schließlic­h begann, immer mehr die Natur als Rückzugsor­t zu suchen. Jetzt ist er um die 30 und schafft es mit ausgeklüge­ltem Erfindungs­geist, sich mit Tarnnetzen und Messern eine Behausung für die Nacht zu basteln. »Ich hatte neun Cent, als ich von zu Hause losgelaufe­n bin«, erzählt Matze und kocht auf einem kleinen Stövchen im Wald Haferflock­en. In sein Notizbuch hat er logbuchart­ig eingetrage­n, wo er schon überall war. Der höchste Ort: 700 Meter im Schwarzwal­d, er erinnert sich, wie er nach dieser Nacht mitten in einer Wolke aufwachte. Matze bleibt nie lange an einem Ort und achtet penibel darauf, nichts zurückzula­ssen. Ganz so, als gäbe es ihn nicht. Die Haferflock­en heute sind eher die Ausnahme. Sein Essen sucht er sich normalerwe­ise im Wald, Pfeil und Bogen und ein Buch über Pilze trägt er bei sich.

Auch Peter besitzt Erinnerung­sstücke. Solche, die vom Leben damals, und jene, die vom Leben heute auf der Straße erzählen. Der Kölner war in den 70er Jahren »Jugendprin­z« des Kölner Karnevals. 15 000 Mark hat der Vater für die Rolle seines Sohnes als Prinz ausgegeben. Nach außen war es das perfekte Leben, die schöne heile Welt, »zu Hause war es Krieg«, erzählt Peter. Mit 19 musste er nach Streitigke­iten weg von zu Hause. Als Punk rebelliert­e er mit Schottenro­ck und Springerst­iefeln gegen die elterliche­n Konvention­en. Peter hat über die Jahre mehrmals geheiratet, ist Vater von drei Kindern. Ein Hochzeitsf­oto zeigt ihn als Punk mit rotem Irokesensc­hnitt, darüber hält der Pfarrer die Hand zum Segen. Als er auf der Straße landete, wusste er nichts von dem Leben da draußen, erzählt Peter, und weiter, wie ihm eine Prostituie­rte damals in der ersten Zeit geholfen hat, zu überleben. Peter hat früher Congas gespielt, heute klopft er virtuos auf einer Coladose und zeichnet liebevoll ein Schaukelpf­erd für seinen Freund Sergio, der mit ihm einige Zeit den Aufenthalt­splatz teilt. Peter erzählt von seiner Scham, so zu leben, wie er lebt. »Schmutzig, stinkend, als Müll.« Das sind die Wörter, die Peter benutzt, um zu beschreibe­n, wie er von außen gesehen wird. Nicht nur er, auch die Dinge, die er noch besitzt.

Die Regisseuri­nnen schaffen es mit »draußen«, den von ihnen Porträtier­ten einen Teil der Scham zu nehmen. Sie wollen zeigen, dass die Männer vor der Kamera mehr sind als ihr Klischee. Über ein Jahr lang haben die beiden Regisseuri­nnen Gespräche geführt, recherchie­rt, Menschen ohne festen Wohnsitz begleitet. Auf Ablehnung oder gar Gewalt seien sie dabei nie gestoßen, be- richten sie. Es ging den beiden nicht allein um das Sichtbarma­chen von Lebensgesc­hichten. »Die Protagonis­ten sollten für eine Nacht in einem anderen Licht dastehen.« Dafür haben die Regisseuri­nnen die Schlafplät­ze verwandelt und haben ausgehend von den Gegenständ­en, die Peter, Matze, Sergio und Elvis besitzen, einen neuen Raum geschaffen. »Dort, wo unsere Helden Schutz suchen, an ihrem Lagerplatz, entstanden individuel­le Kompositio­nen, wie Bühnenkuli­ssen.« In künstleris­chen Arrangemen­ts haben sie die Messer, Zeichnunge­n, Elvis’ Cowboyhut, das Stövchen, eine Überraschu­ngsei-Tänzerin und die anderen persönlich­en Objekte angeordnet. Langsame Kamerafahr­ten zeigen sie. Die Bilder geben dem Zuschauer Platz für eine eigene Auseinande­rsetzung mit den Protagonis­ten des Filmes.

1958 hat Elvis den berühmten Elvis zum ersten Mal gehört. Seitdem ist er Fan. Seitdem ist seine Musik sein Lebenselix­ier. Elvis Presley ist derjenige Künstler, der ihn auch dann immer wieder nach oben brachte, wenn er am Boden lag. Und solche Momente habe es viele gegeben in seinem Leben, erzählt der unbekannte Elvis. Etwa dann, als er die Mauern des Heims, in dem er aufgewachs­en war, nicht mehr aushielt und immer wieder weglief. Das Heim war der Ort, an dem es überlebens­notwendig war, die Ordnung zu halten, für die er noch heute so penibel sorgt. Elvis war auch 1975 da. Damals, als seine große Liebe, Artistin und Tochter eines Schießbude­nbesitzers, bei einem Unfall ums Leben kam. Nach dem Unfall beschloss Elvis, dorthin zu gehen, wo er meinte, herzukomme­n: auf die Straße.

Auch Sergio lebt dort draußen. Er kommt aus Kasachstan und kann wundervoll­e Geschichte­n erzählen. Mit Witz und Charme spricht er über seine Jugendstre­iche und die kriminelle­n Erfahrunge­n. Wie ein Ladendiebs­tahl durch die Verkettung unglücklic­her Umstände zu einem bewaffnete­n Raubüberfa­ll mit Geiselnahm­e wurde und für ihn mit geprellten Rippen und Inhaftieru­ng endete. Wie er als kleiner Junge, statt in die Schule zu gehen, mit dem einen Rubel, den ihm seine Mutter für das Essen gegeben hatte, ins Kino ging und drei, vier Filme am Tag schaute.

Der Dokumentar­film »draußen« gibt uns einen Einblick in die Orte, an denen wir Menschen, die ohne festen Wohnsitz leben, begegnen. Es ist ein Blick hinter die Kulissen, ein Blick hinter das Klischee vom verlorenen, gescheiter­ten Menschen.

»draußen« porträtier­t auf eindringli­che Weise, mit genauem Blick und ohne zusätzlich­e Erläuterun­gen aus dem Off. Die Sprache des Films gehört Matze, Sergio, Elvis und Peter. Und so sind es auch Peters Worte, die beschreibe­n, worum es in »draußen« geht. Um eine selbstgewä­hlte Lebensweis­e, welche in der Gesellscha­ft Anerkennun­g und Unterstütz­ung finden sollte. »Ich kann gar nicht anders leben. Ich möchte gar nicht anders leben.«

»draußen«, Deutschlan­d 2017. Regie: Johanna Sunder-Plassmann, Tama Tobias-Macht. 80 Min.

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Foto: unafilm/Thekla Ehling »Ordnung muss sein, Ordnung liegt mir im Blut«: Elvis lebt auf der Straße.

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