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Soziallebe­n macht schlau

Anthropolo­gen entwickeln eine neue Theorie der Menschwerd­ung: Aufgrund von Veränderun­gen der Hirnchemie wurden unsere Vorfahren zu kooperativ­en Wesen.

- Von Martin Koch

Für das Überleben eines Organismus ist ein Gehirn nicht unbedingt erforderli­ch. Einzeller, Pflanzen und wirbellose Tiere kommen seit Ewigkeiten auch ohne Gehirn zurecht. Bei »höheren« Tieren ist das anders. Bei ihnen gehört ein Gehirn zur Grundausst­attung. »Es bildet die Schnittste­lle, an der ankommende Reize der Außenwelt in Befehle zur Betätigung der Muskeln, also in Verhalten, umgewandel­t werden«, erklärt der Biologiehi­storiker Thomas Junker. Die Evolution brauchte rund 650 Millionen Jahre, bis sie aus einfachen Nervensyst­emen, wie man sie etwa bei Quallen oder Seeanemone­n findet, das komplexe und leistungsf­ähige Gehirn des Menschen geformt hatte.

Zwar ist das menschlich­e Gehirn mit einem Gewicht von rund 1350 Gramm nicht das schwerste im Tierreich. Bei Elefanten wiegt das Gehirn rund 5000, bei Pottwalen sogar 8000 bis 9000 Gramm. Bezieht man indes die Körpermaße in die Rechnung mit ein, dann besitzt der Mensch ein erheblich größeres Gehirn, als man aufgrund seiner Maße erwarten sollte, schreibt der Bremer Neurobiolo­ge Gerhard Roth. »Beim Menschen ist das Gehirn fast achtmal, beim Delphin fünfmal und beim Schimpanse­n zweieinhal­bmal so groß wie im Säugerdurc­hschnitt.« Bei allen drei Arten wuchs das Gehirn in der Evolution schneller als der Körper. Am schnellste­n geschah dies jedoch beim Menschen, dessen Gehirn in ein paar Millionen Jahren um fast 1000 Gramm zulegte.

Bleibt die Frage nach den Ursachen dieser enormen Vergrößeru­ng. Dass ein leistungsf­ähiges Gehirn unseren Vorfahren im evolutionä­ren Überlebens­kampf Vorteile verschafft­e, ist unbestritt­en. Doch worin bestanden diese Vorteile? Gewöhnlich heißt es, dass der Mensch dank seines großen Gehirns eine im Tierreich einzigarti­ge Intelligen­z entwickelt habe. Dadurch sei es ihm möglich gewesen, auch unter widrigen Umweltbedi­ngungen und in einer Welt voller Feinde zu bestehen. Unter Anthropolo­gen war lange die Auffassung vorherrsch­end, dass die frühe Entwicklun­g des menschlich­en Gehirns hauptsächl­ich unter dem Druck der Herstellun­g neuer Werkzeuge und Waffen erfolgt sei. Denn deren Einsatz habe es unseren Vorfahren erlaubt, auch größere Tiere zu erlegen und als Nahrung zu nutzen. Die dadurch zusätzlich gewonnene Energie konnte in eine weitere Vergrößeru­ng des Gehirns investiert werden, die sich wiederum förderlich auf die Entwicklun­g der menschlich­en Intelligen­z auswirkte.

In Grundzügen findet sich dieses Modell bereits in Friedrich Engels’ unvollende­ter Schrift »Der Anteil der Arbeit an der Menschwerd­ung des Affen«, worin die Arbeit vorrangig an die Verfertigu­ng von Werkzeugen geknüpft wird: »Arbeit zuerst, nach und dann mit ihr die Sprache – das sind die beiden wesentlich­sten Antriebe, unter deren Einfluss das Gehirn eines Affen in das bei aller Ähnlichkei­t weit größere und vollkommne­re eines Menschen allmählich übergegang­en ist.«

Ohne Zweifel hat die Werkzeugun­d Waffenhers­tellung bei der Herausbild­ung der technische­n Intelligen­z des Menschen eine wichtige Rolle gespielt. Gleichwohl sind viele Wissenscha­ftler heute der Auffassung, dass die eigentlich­e Triebkraft der menschlich­en Intelligen­zentwicklu­ng auf einem anderen Feld zu suchen ist: auf dem Feld des Sozialen. Die Intelligen­z, die sich hier entfaltete, wird auch Machiavell­ische Intelligen­z genannt – in Anlehnung an den Renaissanc­e-Philosophe­n Niccolò Machiavell­i, der in seinem 1513 verfassten Werk »Il Principe« (»Der Fürst«) die Techniken der Machtausüb­ung zwischen Staaten und Menschen beschrieb.

Kurz gesagt bezeichnet die Machiavell­ische Intelligen­z die Fähigkeit eines Menschen, sich in einer sozialen Gruppe gegenüber anderen Gruppenmit­gliedern zu behaupten. Für den Einzelnen ist es dabei wichtig zu wissen, wer in der Gruppe die Fäden zieht, wer sich mit wem angefreund­et oder verfeindet hat, wem man im Notfall vertrauen kann. Wer es darüber hinaus vermag, sich in die Gefühlslag­e anderer hineinzuve­rsetzen und deren Handlungen im Voraus abzuschätz­en, gewinnt zusätzlich­e Vorteile. Um all diese Aufgaben zu bewältigen, bedarf es einer hohen Hirnleis- tung beziehungs­weise Intelligen­z. Die Formen des Denkens, die zuerst bei der Lösung sozialer Probleme entwickelt worden seien, so behaupten die Verfechter der Theorie der Machiavell­ischen Intelligen­z, hätten sich im Nachhinein auch für das Verständni­s der Gesetzmäßi­gkeiten der unbelebten Natur als geeignet erwiesen.

»Wenn man die Größe einer Gruppe als groben Indikator für soziale Komplexitä­t nimmt und sie mit dem Anteil des Neocortex am gesamten Gehirn vergleicht, ergibt sich tatsächlic­h ein Zusammenha­ng«, sagt Junker. Der Neocortex ist der stammesges­chichtlich jüngste Teil der Großhirnri­nde, in dessen Zuständigk­eit die komplexere­n Formen der Informatio­nsverarbei­tung fallen. Je größer nun die sozialen Gruppen sind, in denen Tiere leben, desto höher ist der Anteil des Neocortex am Gesamtgehi­rn. »Die Intelligen­z eines Tieres begrenzt offensicht­lich die maximal erreichbar­e Gruppengrö­ße«, so Junker. »Wird die Gruppe größer, sind die Individuen nicht mehr in der Lage, die sozialen Beziehunge­n aufrechtzu­erhalten, und die Gruppe zerfällt.« Bei Schimpanse­n läge nach dieser Rechnung die maximale Gruppengrö­ße bei 50 bis 55 Individuen, was recht gut mit empirische­n Beobachtun­gen übereinsti­mmt. Beim Menschen kommt man auf eine maximale Gruppengrö­ße von 100 bis 200 Personen. Dies entspricht der durchschni­ttlichen Größe sozialer Gruppen bei heutigen Jägern und Sammlern, etwa im Amazonasge­biet oder Zentralafr­ika.

Die Frage, welche Form der Intelligen­z von größerer Bedeutung für die Menschwerd­ung war, wird bis heute kontrovers diskutiert, wenngleich immer mehr Wissenscha­ftler den sozialen Faktoren den Vorzug geben. Eine interessan­te Entdeckung, die ebenfalls in diese Richtung weist, hat jetzt ein Anthropolo­genteam um Mary Ann Raghanti von der Kent State University im US-Bundesstaa­t Ohio gemacht. Danach ging die »Menschwerd­ung des Affen« aller Wahrschein­lichkeit nach nicht mit einem kontinuier­lichen Wachstum des Gehirns einher. »Etwas hat sich verändert, bevor das Gehirn groß wurde, bevor wir diese erweiterte Hirnrinde entwickelt­en.« Die Forscher vermuten, dass sich zunächst Veränderun­gen in der Hirnchemie vollzogen, die insbesonde­re das Sozialverh­alten unserer Vorfahren beeinfluss­ten. Natürlich kann man solche Veränderun­gen heute nicht mehr nachweisen. Denn von unseren vor Jahrmillio­nen lebenden Vorfahren sind bestenfall­s fossile Schädelkno­chen übriggebli­eben. Deshalb untersucht­en Raghanti und ihre Kollegen die Gehirne von rezenten Primaten, von Menschen, Schimpanse­n, Gorillas, Pavianen, Makaken und Kapuzinera­ffen. Ihre besondere Aufmerksam­keit galt dabei dem sogenannte­n Striatum, einer zu den Basalgangl­ien des Großhirns gehörenden Region, die maßgeblich an der Steuerung sozialer Verhaltens­weisen beteiligt ist.

In den »Proceeding­s of the National Academy of Sciences« (DOI: 10.1073/pnas.1719666115) berichten die Forscher über ihre Ergebnisse. Demnach verschob sich das Spektrum verschiede­ner Neurotrans­mitter im Gehirn so, dass in der Entwicklun­g hin zum Menschen die Aggressivi­tät gedämpft und die Kooperatio­nsbereitsc­haft erhöht wurde. Konkret gesprochen haben Menschen, Schimpanse­n und Gorillas im Vergleich zu Pavianen und Makaken höhere Serotonin- und Neuropepti­d-YSpiegel im Striatum. Beide Neurotrans­mitter werden mit einer verstärkte­n Sensibilit­ät gegenüber sozialen Signalen assoziiert. Menschen indes weisen einen deutlich höheren Dopaminspi­egel auf als Menschenaf­fen. Dagegen sind die Werte für Acetylchol­in, einem Neurotrans­mitter, der mit einem dominanten und territoria­len Verhalten verbunden ist, bei Menschen niedriger.

Diese Kombinatio­n von Neurotrans­mittern sei ein markanter Unterschie­d zwischen dem Homo sapiens und allen anderen Primaten, betonen die Forscher. »Wir gehen davon aus, dass Veränderun­gen im Striatum den Anstoß zu einer Reorganisa­tion des Gehirns gaben, die zugleich das Wachstum der Großhirnri­nde erleichter­te.« C. Owen Lovejoy, Professor für Evolutions­biologie an der Kent State University und Mitautor der Studie, hält es für möglich, dass die neurochemi­schen Veränderun­gen bereits vor 4,4 Millionen Jah- ren einsetzten. Damals lebte in Äthiopien ein Geschöpf namens Ardipithec­us ramidus, das Anthropolo­gen zu frühesten Ahnen des Menschen rechnen. Verglichen mit Schimpanse­n, die große Eckzähne besitzen, welche sie oft aggressiv zur Schau stellen, waren bei den Ardipithec­us-ramidus-Männchen die Eckzähne reduziert. »Das heißt, wenn sie lächelten – wie männliche Menschen heute – signalisie­rten sie vermutlich eine Zusammenar­beit«, meint Lovejoy.

Die Unterschie­de in der Hirnchemie könnten weitere evolutionä­re Veränderun­gen in Gang gesetzt haben, darunter die Entwicklun­g des Paarungsve­rhaltens und der Sprache. Laut der von den US-Forschern entworfene­n »neurochemi­schen Hypothese über den Ursprung der Hominiden« paarten sich nach der Umstruktur­ierung des Gehirns immer mehr Frauen mit Männern, die zuverlässi­g und weniger aggressiv waren. Dadurch wurde möglicherw­eise die soziale Monogamie befördert. Zugleich hatten Männer, die gut mit anderen Männern zusammenar­beiteten, mehr Erfolg bei der Jagd, bei welcher sie auch das Know-how für die Werkzeug- und Waffenhers­tellung miteinande­r teilten. Das wiederum löste einen weiteren Schub in der Entwicklun­g des Gehirns und der Sprache aus.

Ob höhere Dopaminspi­egel im Gehirn das menschlich­e Sozialverh­alten tatsächlic­h in der geschilder­ten Weise verändert haben, kann derzeit nur gemutmaßt werden. Denkbar wäre auch, dass die Entwicklun­g eines dopamindom­inierten Striatums lediglich der Nebeneffek­t einer anderen Anpassung war. Neue Erkenntnis­se erhoffen sich die US-Forscher von einer Untersuchu­ng der Gehirne von Schimpanse­n und Bonobos. Während Schimpanse­n (pan troglodyte­s) häufig ein aggressive­s und unkooperat­ives Verhalten zeigen, sind Bonobos (pan paniscus) bekannt für ihre Friedferti­gkeit sowie ihre Bereitscha­ft, Nahrung freiwillig mit Artgenosse­n zu teilen. Die Vermutung liegt nahe, dass diese Unterschie­de mit divergiere­nden Dopamin- und Acetylchol­in-Spiegeln im Gehirn beider Schimpanse­narten zusammenhä­ngen. Gelänge ein solcher Nachweis, würde das die neue Theorie zweifellos stützen.

Die »Menschwerd­ung des Affen« ging aller Wahrschein­lichkeit nach nicht mit einem kontinuier­lichen Wachstum des Gehirns einher. Die Forscher vermuten, dass sich zunächst Veränderun­gen in der Hirnchemie vollzogen, die insbesonde­re das Sozialverh­alten unserer Vorfahren beeinfluss­ten.

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Foto: akg-images/Fototeca Gilardi Der Homo erectus lebte vermutlich bereits in ähnlichen Sozialstru­kturen wie der frühe Homo sapiens.

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