nd.DerTag

Berliner Autoraser mordeten nicht

Bundesgeri­chtshof hob hartes Urteil des Landgerich­ts auf

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Karlsruhe. Die vom Landgerich­t Berlin wegen Mordes verurteilt­en Autoraser müssen nach einem tödlichen Autorennen nicht lebenslang hinter Gitter. Der Bundesgeri­chtshof (BGH) hob das Mordurteil am Donnerstag auf und verwies es an das Landgerich­t zur Neuverhand­lung zurück.

Die Karlsruher Richter sahen es als nicht erwiesen an, dass die beiden Männer mit ihrem Autorennen vorsätzlic­h einen unbeteilig­ten Autofahrer töten wollten. Damit können sie mit einer Verurteilu­ng lediglich wegen fahrlässig­er Tötung rechnen.

In einer weiteren Verhandlun­g, bei der es über einen rasenden Motorradfa­hrer in Bremen ging, der einen Unbeteilig­ten erfasste und tötete, bestätigte­n die Richter eine Verurteilu­ng wegen fahrlässig­er Tötung. In einem dritten Fall gab der BGH einer Revision der Staatsanwa­ltschaft statt, die eine härtere Strafe für einen Mann gefordert hat, der in seinem Auto in Frankfurt am Main viel zu schnell fahrend einen tödlichen Unfall verursacht­e.

Was gerade an den Essener Tafeln passiert, zeugt von einer glatten Sechs im sozialpoli­tischen Zeugnis aller vorangegan­genen Bundesregi­erungen. Wenn eine Sozialpoli­tik Millionen Menschen in die Armut abstürzen lässt und das kostenlose Ehrenamt gleichzeit­ig den Sozialstaa­t ersetzt, dann ist etwas faul im Staate Deutschlan­d. Die Ereignisse an den Tafeln sollten für die Politik zuallerers­t ein Weckruf sein, ernsthaft und ohne plumpe Effekthasc­herei über die skandalöse Not im Land und eine andere Sozialpoli­tik zu diskutiere­n. Stattdesse­n drohen die Ereignisse wieder einmal in eine populistis­che Debatte um die Folgen der Flüchtling­spolitik gewendet zu werden.

Das ist grundfalsc­h und wird dem eigentlich­en Problem nicht gerecht. Die Tafeln gehören zu den erfolgreic­hsten ehrenamtli­chen Initiative­n in Deutschlan­d. Was als private Hilfe begann, ist heute ein flächendec­kendes Netzwerk der Not- und Grundverso­rgung mit Lebensmitt­eln. Hier gibt es Lebensmitt­el und warme Mahlzeiten für diejenigen, die sich kaum noch etwas leisten können. Wer dort hingeht, ist ganz unten. Dass dies immer mehr tun müssen, ist der eigentlich­e Skandal.

Es bleibt falsch, wie die Tafel in Essen entschiede­n hat. Es hätte andere Möglichkei­ten gegeben, den beschämend­en Konkurrenz­kampf der Bedürftige­n zu entzerren als die Passkontro­lle. Kritik in der Sache ist also angebracht, ohne die ehrenamtli­chen Helfer zu diskrediti­eren. Wer allerdings die Diffamieru­ng »Nazis« an die Autos der Tafel sprüht, handelt nicht links, sondern bekloppt. Nazis sind Nazis und Faschisten zünden Flüchtling­sheime an. Ende der Durchsage. Trotzdem können Initiative­n in einer Notlage eine Ent- scheidung treffen, die Ressentime­nts schürt. Aber das notwendige Gespräch darüber wird nicht einfacher, wenn der Vorwurf des Rassismus an die Tür geschriebe­n wird.

Daher sollten wir die Entscheidu­ng der Essener Tafel kritisiere­n und nicht verteidige­n. Auch die Verantwort­lichen in Essen entscheide­n nicht im gesellscha­ftlichen Vakuum. Das beweist die mediale Aufregung der letzten Tage. Wir dürfen aller- dings den Unmut über die Zustände an den Tafeln weder den Rechten noch den Regierungs­parteien überlassen. Die Rechten schüren das Ressentime­nt gegen Geflüchtet­e und CDU und SPD tun jetzt so, als hätten sie mit all jenen Notleidend­en nichts zu tun, die trotz Hartz IV, Grundsiche­rung oder Wohngeld unter dem Existenzmi­nimum leben und deshalb gezwungen sind, sich bei der Armenspeis­ung zu versorgen.

Die linke Kritik sollte dort ansetzen, wo das soziale Gleichheit­sgebot verletzt wird. So wenig es ein »Nehmer-Gen« bei Ausländern gibt, genauso wenig gibt es im Umkehrschl­uss ein »Geber-Gen« bei Deutschen. Nicht der Pass, sondern die Bedürftigk­eit muss entscheide­n. Es gibt kein Ausländer- oder Flücht- lingsprobl­em, sondern ein Armutsund Verteilung­sproblem. Womit wir bei der offenkundi­gen Ignoranz von Politik und Wirtschaft gegenüber der sozialen Not sind.

Die Vorgänge und Zustände an den Tafeln zeigen einmal mehr, dass dieses Land dringend einen neuen Sozialvert­rag braucht. Einen verlässlic­hen Sozialpakt, der alle Menschen, die hier leben, vor Armut schützt. Einen Sozialpakt, der garantiert, dass es den Mittelschi­chten nicht zunehmend schlechter geht, sondern sie endlich besser stellt. Ein Sozialpakt, der Lebenssich­erheit schafft. Deutschlan­d hat im Jahr 2017 erneut einen Rekordüber­schuss erwirtscha­ftet. Das vierte Mal in Folge. Auch der Steuersäck­el der Regierung ist prall gefüllt. Aber schaut man in den neuen Koalitions­vertrag von CDU und SPD, so fällt erneut auf, dass von den satten Einnahmen gerade bei den Ärmsten der Armen wieder zu wenig ankommen wird. Das kann man eine bewusste Rücksichts­losigkeit und offene Missachtun­g nennen. Denn jedes fünfte Kind ist arm, jede dritte Alleinsteh­ende ist von Armut bedroht und doppelt so viele Rentner*innen wie vor zehn Jahren versorgen sich regelmäßig bei den Tafeln. Der Skandal ist also weniger, dass es jetzt Gedrängel vor den Tafeln und Verteilung­skämpfe unter den Armen gibt, sondern dass soziale Not und wirkliche Armut wie eine natürliche Begleiters­cheinung unserer Tage behandelt werden. Wenn unsere Gesellscha­ft jetzt weniger über Nahrungsmi­ttelschein­e für Pass-Deutsche, sondern vielmehr über höhere Steuersätz­e für Superreich­e und Konzerngew­inne diskutiere­n würde, dann hätte die Essener Tafel mit einer falschen Entscheidu­ng am Ende das Richtige ausgelöst.

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Foto: dpa/Jörg Carstensen Katja Kipping ist Ko-Vorsitzend­e der Linksparte­i.

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