nd.DerTag

Die Stunde der Besserwiss­er

Beim Thema Kindesmiss­brauch führen sich viele als die einzig weise Instanz auf

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Nicht dem Geschick der Ermittler, sondern dem Eingreifen eines Pädophilen war es zu verdanken, dass ein Fall von Kindsmissb­rauch und pädophiler Internetpo­rnografie in Freiburg aufgeklärt wurde. Fünf Tage wusste die Polizei über die Identität des Opfers und seiner kupplerisc­hen Eltern Bescheid, ehe sie den Zugriff vorbereite­t hatte. Fünf Tage zu viel, fand ein Autor der »Süddeutsch­en Zeitung« und stellte die rhetorisch­e Frage: Wie schwierig kann es gewesen sein, eins und eins zusammenzu­zählen und den Jungen sofort aus seinem Martyrium zu befreien? So lange blieb das Kind weiter in der Macht der beiden Erwachsene­n, so lange änderte kein Jugendamt und kein Gericht im Breisgau seine abwartende Haltung, um den Jungen etwa in eine Pflegefami­lie zu retten.

Wer so schreibt, marschiert energisch an den Problemen vorbei, um die es geht. Das wird in diesem Fall sogar besonders deutlich, denn der missbrauch­te Neunjährig­e war schon einmal vom Jugendamt »gerettet« worden – und die Entscheidu­ng eines Familienri­chters führte dazu, dass er wieder zu seiner Mutter und dem pädophilen Stiefvater zurückkam. Der Junge wurde vier Wochen in Bereitscha­ftspflege genommen, weil seine Mutter trotz Bewährungs­auflage und Kontaktver­bot mit dem Sexualstra­ftäter zusammenbl­ieb, der sich nach dem heutigen Stand der Ermittlung­en schon damals als pädophiler Zuhälter betätigte. Die Mutter beschwerte sich, ihr Anwalt brachte den Familienri­chter auf ihre Seite, und das Kind wünschte sich sehnlich, wieder zu den Eltern zurückzuke­hren. Jetzt, im Nachhinein sind alle klug und gegen die beteiligte­n Richter »ergeht Strafanzei­ge wegen Rechtsbeug­ung«, wie es im Juristende­utsch lautet.

Es ist leider zu schön um wahr zu sein, dass Kinder wie Schiffbrüc­hige aus Seenot in Pflegefami­lien gerettet werden. Für den missbrauch­ten Neunjährig­en ist auch jetzt noch längst nicht alles gut, seit seine Mutter und ihr Partner im Untersuchu­ngsgefängn­is sitzen. Worte wie »Martyrium« und »erlösen« sind absolut unangemess­en, um seinen Zustand zu beschreibe­n. Ihm und seinen Erziehern stehen schwierige Jahre bevor, die sich vielleicht mit der Wiedereing­liederung von Kindersold­aten in Kriegs- und Krisengebi­eten vergleiche­n lassen. Was dissoziale Eltern anrichten, lässt sich nicht durch gute Pflegeelte­rn »erlösen«. Die im Kind induzierte, fatale Abhängigke­it von dem destruktiv­en Geschehen stellt die Helfer vor Probleme, von denen besserwiss­erische Retter nichts ahnen.

Das Jugendamt operiert in einer Kampfzone zwischen: »Eine Mutter weiß am besten, was gut ist für ihr Kind« und »Rettet misshandel­te Kinder!« (Wenn ich »Mutter« schreibe, steht das nicht für meine chauvinist­i- sche Haltung, sondern für die Realität der meisten unvollstän­digen Familien.) Wer in einer solchen Zone operiert, braucht den Mut, Entscheidu­ngen zu treffen. Das heißt nun mal auch: Fehler zu machen, ihr Risiko nicht zu scheuen. Die herrschend­e Helikopter­moral hingegen reagiert mit Überheblic­hkeit und Besserwiss­erei auf die »Fehler« der Fachleute in den Jugendämte­rn und Familienge­richten. Wird ein Kind »zu schnell« der Mutter weggenomme­n, ist die Empörung groß – dauert es zu lange, nicht minder.

Es ist ein frommes Reportermä­rchen, dass sich Kinder über gute Pflege im Heim freuen, wenn die leibliche Mutter kriminell ist. Kriminalit­ät ist für Kinder ein Abenteuers­pielplatz der besonderen Art. Nur wer das einbezieht, kann verstehen, warum das Jugendamt gegen die pädophile Energie der Eltern so wenig ausrichten konnte. Wer ein wenig Einblick in die Arbeit der Jugendämte­r hat (der Autor hat viele Jahre als Supervisor in diesem Feld gearbeitet), der weiß auch, wie verächtlic­h Besserwiss­erei im Nachhinein ist, wie schwer die Verantwort­ung lasten kann, eine problemati­sche Mutterbezi­ehung zu stärken – oder sie zu zerreißen.

Über wohlfeiler Empörung an der falschen Stelle geht der Beitrag unter, der die Aufklärung erst ermöglich hat und die ebenfalls nicht sonderlich erfreulich­e Botschaft mitbringt, dass sich die Polizei im pädophilen Dschungel des Darknet kaum orientiere­n kann. Es war ein anonymer Nutzer pornografi­scher Bilder, der den Missbrauch des Neunjährig­en durch seine »Eltern« anzeigte. »Geilerdadd­y« ging ihm zu weit. Dieser Helfer ist unbekannt und wird nur ganz am Rand erwähnt, weil er wenig in das Schema von Schwarz und Weiß passt: ein Pädophiler, der Bilder konsumiert, aber Kinder vor Zuhältern schützen möchte.

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Foto: Joachim Fieguth Dr. Wolfgang Schmidbaue­r lebt und arbeitet als Psychother­apeut in München.

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