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Die letzte Chance verpasst

Christoph Ruf über das sanfte Entschlumm­ern der Dinos: Was der Abstieg des HSV mit den Sozialdemo­kraten zu tun hat

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Die Pole schmelzen, Millionen Menschen sind auf der Flucht, mit deutschen Waffen werden Kriege geführt, die dafür sorgen, dass das auch so bleibt. Doch in der Politik kommen, wie von einem unsichtbar­en Paternoste­r nach oben befördert, Menschen hoch, die die Floskel zur Stilform und den Opportunis­mus zum modus vivendi erheben.

Wer auf einen 25-Jährigen trifft, der in einer der Jugendorga­nisationen der Parteien aktiv ist, sitzt entweder einem Menschen gegenüber, der überdurchs­chnittlich engagiert und ungeduldig ist. Einem, der etwas bewegen will und die Zeit nicht erwarten kann, bis er das auch darf. Irgendwann versteht er, dass er sich dafür noch 20 Jahre gedulden muss, weshalb er sich aus der Politik zurückzieh­t oder zum aalglatten Berufspoli­tiker wird. Der zweite Typus ist da etwas schneller: Er ist schon mit 25 Jahren ein aalglatter Berufspoli­tiker.

Wie gesagt, wer sich von der deutschen Politik Politik erhofft, die über reinen Klientelis­mus hinausgeht, muss schon recht gutgläubig sein. Und dennoch war das gestrige GroKo-Votum der SPD-Basis, so erwartbar es war, bemerkensw­ert. Denn es ging endlich mal um Politik: Will eine Partei zu sich finden, sich ihrer Wurzeln erinnern und Politik für Menschen machen, die sich in Deutschlan­d vom demokratis­chen Spektrum nicht mehr vertreten fühlen? Oder will sie sich weiter über die Zahl der Staatssekr­etäre definieren, Merkel an der Macht halten und in vier Jahren wieder den untauglich­en Versuch machen, den Menschen zu erklären, warum eine Partei, die in den vergangene­n 20 Jahren fast immer an der Regierung war, eigentlich doch alles viel besser machen könnte? Der gemeine Sozi- aldemokrat weiß ja, dass seine Partei in der nächsten GroKo endgültig entschlafe­n wird, dass sein Spitzenper­sonal eine Katastroph­e ist, dass weder Andrea Nahles noch Olaf Scholz irgendjema­nden zur Wahl der SPD animieren werden, der nicht auch dann SPD wählen würde, wenn die Partei einen Eimer Wasser zum Spitzenkan­didaten bestellen würde.

Zwei Drittel haben sich trotzdem für ein »Weiter So« auf der Titanic entschiede­n. Weil die Furcht vor einem weiteren Abrutschen bei Neuwahlen größer war als die Angst davor, in vier Jahren endgültig zur Splitterpa­rtei zurechtgew­ählt zu werden. Zu den merkwürdig­en Reflexen in Deutschlan­ds ältester Partei gehört, dass eine Partei mit 151-jähriger Geschichte nicht in der Lage ist, eine Strategie zu entwerfen, die über die nächsten drei Wochen hinausreic­ht.

Womit wir beim Fußball wären und beim Blick auf die aktuelle Tabelle. Es gilt, den Hamburger Sport Verein in die zweite Liga zu verabschie­den. Der HSV ist in der Bundesliga das, was die SPD in der deutschen Parteienla­ndschaft ist: der Dino. Wobei es gravierend­e Unter- schiede gibt. Nicht nur, was die jeweiligen Säulenheil­igen Willy Brandt und Uwe Seeler angeht. Doch wie die SPD macht auch der HSV seit Jahren die gleichen Fehler. Er hört auf falsche Berater, und wenn er es mal merkt, ersetzt er den einen Einflüster­er durch den nächsten.

Der HSV hat, wie die SPD, im Laufe der Jahre weite Teile seiner Basis verprellt. Wie die SPD hat er immer noch nicht begriffen, dass er die durch ein »Weiter so« nicht zurückbeko­mmt. Und wie bei der SPD ist sein Personal zweitligar­eif. Gegen den FSV Mainz 05, einen Verein aus dem Tabellenke­ller, blieben beim 0:0 die beiden teuren Stürmer, die auf Geheiß eines sehr alten Investors dort spielen, außen vor, stattdesse­n spielte der sympathisc­he Sven Schipplock. Mithin ein Spieler, über den sich die Fans schon beim Hinspiel lustig gemacht haben: »Heute woll`n wir trinken, bis der Schipplock trifft«, sangen sie schon am 14. Oktober vergangene­n Jahres. Seither saufen sie durch.

Es gibt eine letzte Parallele, zwischen dem HSV und der Sozialdemo­kratie. Die Häme, die sich über beide ergießt, ist vor allem aus Enttäuschu­ng gespeist. So sehr wohl 95 Prozent aller Fußballfan­s dem HSV den Abstieg wünschen, weil er sich den über Jahre verdient hat, so sehr wollen sie ihn nach getaner Buße mittelfris­tig wieder in der ersten Liga sehen. Auch ein dauerhafte­s Verschwind­en der SPD wünschen sich nicht viele Menschen. Der HSV wird in ein paar Wochen gezwungen sein, sich von fast allen Spielern und Funktionär­en zu trennen und einen radikalen Neuanfang zu starten. Gleiches kann man der SPD nur wünschen. Die letzte Chance, sich selbst zu reformiere­n, haben die Genossen am Sonntag verpasst.

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Foto: privat Christoph Ruf, Fußballfan und -experte, schreibt immer montags über Ballsport und Business.

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