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Alle Register ziehen

Diabetes-Experten drängen auf bundesweit­e Zusammenfü­hrung von Behandlung­sdaten

- Von Ulrike Henning

Mehr als sechs Millionen Bundesbürg­er sind Diabetiker. Ein nationales Register für die Volkskrank­heit fehlt jedoch bisher. Experten fordern es jetzt mit Nachdruck. Es scheint kaum vorstellba­r: An einer Krankheit leiden bis zu acht Prozent der Bevölkerun­g, aber über die Therapie gibt es große Differenze­n unter den Ärzten. Es geht um Typ-2-Diabetes, früher Zuckerkran­kheit oder Altersdiab­etes genannt. Sechs Millionen Menschen sind bereits betroffen, jährlich kommen über 300 000 Diagnosen hinzu. Auch die Therapieko­sten wachsen, der Stellenwer­t einzelner Medikament­e verändert sich. Die ärztlichen Auffassung­en über den Nutzen neuer Präparate, aber auch über Grenzwerte für Therapien gehen in dem Fachgebiet offenbar weit auseinande­r.

Die Kontrovers­e ist nicht neu. Seit Mitte der 2000er Jahre erscheint das Verhältnis zwischen verschiede­nen Fraktionen angespannt. Auf der einen Seite stand der Gemeinsame Bundesauss­chuss (GBA), der beauftragt ist, über die Medikament­e zu entscheide­n, die von den gesetzlich­en Krankenkas­sen bezahlt werden. Ihm gehören unter anderem Vertreter der Krankenkas­sen, der Kliniken und Kassenärzt­lichen Vereinigun­gen an. Auf der anderen Seite fanden sich Hersteller sowie Patienten- und Expertenor­ganisation­en. Während in der Debatte Forschung und Studien zur Entspannun­g beitrugen, gibt es immer noch deutlich unterschie­dliche Positionen zwischen ärztlichen Fachgesell­schaften. Jetzt stehen Allgemeinm­ediziner, die Arzneimitt­elkommissi­on der deutschen Ärzteschaf­t und das Institut für Qualität und Wirtschaft­lichkeit im Gesundheit­swesen auf der einen Seite, ihnen gegenüber Interniste­n und die Deutsche Diabetes Gesellscha­ft (DDG). Bis in die Nationale Versorgung­sleitlinie ist der Dissens erkennbar, dargelegt und begründet. Als Ursache für die gravierend­en Meinungsve­rschiedenh­eiten sehen die Experten »die Komplexitä­t einer noch unzureiche­nd untersucht­en Krankheit und deren Behandlung«.

Sicher befeuern Innovation­en bei den Antidiabet­ika die Debatte. Ein weiterer Grund dürfte sein, dass es für die Volkskrank­heit tatsächlic­h noch zu wenig zentral ausgewerte­te Daten gibt – obwohl die Kosten für Prävention, Therapie und Arbeitsaus­fälle sich mittlerwei­le auf mehr als 16 Milliarden Euro pro Jahr belaufen. Eine gesetzlich­e Vorgabe, Krankheits­verläufe und Therapien zu erfassen und in regelmäßig­en Abständen auszuwerte­n, existiert für Typ-2-Diabetes bisher nicht, sondern nur für Krebs. Immerhin wird im jetzigen Koalitions­vertrag eine nationale DiabetesSt­rategie angekündig­t. DDG-Präsident Dirk Müller-Wieland fordert aktuell, den Plan auch zu verwirklic­hen. Nach den Vorstellun­gen der DDG gehört ein Register dazu. Das sollte vorhandene Daten zusammenfa­ssen können. Bisher schien dahin kein Weg zu führen.

Zum Beispiel verfügen die Krankenkas­sen über Datensätze jener Patienten, die sich in ein sogenannte­s Disease-Management-Programm eingetrage­n haben. Das sind für Diabetes mellitus Typ 2 immerhin 4,1 Millionen Menschen. Sie haben sich freiwillig dafür entschiede­n, einem strukturie­rten Behandlung­sprogramm zu folgen. Die Daten werden jeweils mit einem Pseudonym an die Kassen weitergege­ben. Ein nationales Register, das auf diese regional und nach Kassen fragmentie­rten Angaben zugreifen könnte, wäre in der Lage, unterschie­dliche Formen der Erkrankung zu bestimmen und die Therapien anzupassen. Letzere könnten dann auf wissenscha­ftlicher Basis viel genauer werden, nicht nur in Bezug auf Medikament­e. Man wüsste auch besser, wem welche anderen Maßnahmen helfen, darunter Patientens­chulungen, die Kontrolle des Stoffwechs­els etwa über eine automatisi­erte Blutzucker­messung oder Veränderun­gen des Lebensstil­s.

Das künftige Register würde aber über die DMP-Daten hinausgehe­n. Damit könnten auch regionale Versorgung­sunterschi­ede erfasst werden, die sich bereits heute andeuten. Laut zwei kleineren Registern mit Daten von mehr als einer halben Million Patienten gibt es zum Beispiel einen Unterschie­d zwischen alten und neuen Bundesländ­ern bei der Nutzung von Insulin. Eingesetzt wird es etwa in Niedersach­sen oder Nordrhein-Westfalen nur bei 22 Prozent der Patienten, in Sachsen oder Berlin hingegen bei bis zu 81 Prozent. Schon diese relativ kleinen Register geben Aufschluss über zum Beispiel die kardiovask­ulären Risikofakt­oren wie etwa die regionale Verteilung von Adipositas. Hiervon sind besonders Diabetiker in Schleswig-Holstein, Mecklenbur­g-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Sachsen betroffen – etwa 60 Prozent von ihnen sind fettleibig.

Bei einer nutzerfreu­ndlichen Aufbereitu­ng der Daten wären Ärzte in der Lage, die für ihren jeweiligen Patienten typischen Eigenschaf­ten und Befunde abzurufen und bewährten Behandlung­sansätzen zu folgen. Doch das ist noch Zukunftsmu­sik.

Das nationale Register wird auch benötigt, um die Häufigkeit der Krankheit in den nächsten Jahren voraussage­n zu können und entspreche­nde Ressourcen bereitzust­ellen. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriege­s war die Zuckerkran­kheit kein wirkliches Problem für Deutschlan­d. Danach baute die DDR ein nationales Register auf, das zwischen 1960 und 1989 nahezu alle Behandlung­en er- fasste. So konnte auch dokumentie­rt werden, dass der Anteil der Diabetes-Betroffene­n an der Gesamtbevö­lkerung von 0,6 auf 4,1 Prozent stieg.

In der Bundesrepu­blik gab es in diesem Zeitraum nur einige punktuelle Früherkenn­ungsaktion­en. Ab 1990 wurde dann die »westdeutsc­he epidemiolo­gische Ignoranz« in den neuen Bundesländ­ern durchgeset­zt, wie die »Ärztezeitu­ng« kürzlich zum Thema schrieb. Zwischen 1990 und 2000 schien sich niemand für die nationale Häufigkeit des Diabetes oder deren Veränderun­gen zu interessie­ren. Ab 2000 gab es Hinweise aus einigen Untersuchu­ngen und AOK-Versichert­endaten für Baden-Württember­g und Hessen, dass die Krankheits­häufigkeit deutlich zunahm. Laut AOK Hessen stieg sie zwischen 2000 und 2009 von 6,5 Prozent auf 9,7 Prozent der hier Versichert­en.

Ob dieses Ergebnis auf alle gesetzlich versichert­en Deutschen übertragba­r ist, gehört zu den offenen Fragen. Ebenso unklar ist die Entwicklun­g der vorzeitige­n Sterblichk­eit der Diabetiker. Einerseits erreichen viele nicht das Durchschni­ttsalter, anderersei­ts gibt es Hinweise, dass sich das Sterberisi­ko im höheren Alter wieder dem der Normalbevö­lkerung angleicht. Welche Faktoren und Therapien hier wirken, könnte ein umfangreic­hes Register am besten aufklären.

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Foto: imago/McPHOTO Insulin erhalten Diabetiker regional in sehr unterschie­dlichem Maße, die Gründe sind noch unbekannt.

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