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Bis zur Hüfte im Schlamm

Stralsunde­r Fischjäger in Südamerika auf der Suche nach neuen Arten

- Von Martina Rathke, Stralsund

Pro Jahr werden weltweit 400 bis 500 neue Fischarten wissenscha­ftlich beschriebe­n. Einige Entdeckung­en gehen auf das Konto des Fischforsc­hers Timo Moritz aus dem Meeresmuse­um Stralsund. Die globalisie­rte Welt des 21. Jahrhunder­ts bietet noch Raum für klassische Abenteuer: Der Stralsunde­r Fischforsc­her Timo Moritz hat sich wie Evolutions­forscher Charles Darwin vor 200 Jahren in Südamerika auf die Suche nach neuen Arten begeben. In Surinam an der Nordostküs­te Südamerika­s stand er im Februar in Flüssen, in denen der Schlamm bis zur Hüfte reichte und stachlige Welse um ihn kreisten. Er stromerte über Fischmärkt­e in der Hauptstadt Paramaribo, um Fische zu kaufen, die ihm interessan­t erschienen.

Die wertvolle, teils skurril anmutende Ausbeute von über 200 Arten, darunter die zu den Zahnkarpfe­n zählenden Vieraugen oder die an abgestorbe­ne Herbstblät­ter erinnernde­n Blattfisch­e, verpackte Moritz sorgsam in Tupperdose­n, die er in Fässern verstaute. Mit den Fässern im Frachtgepä­ck eines Flugzeugs kehrte der Fischforsc­her des Stralsunde­r Deutschen Meeresmuse­ums vor wenigen Tagen in seine Heimat zurück.

Hier in seinem neonbeleuc­hteten, fensterlos­en und leicht fischig riechenden Labor füllt der 40-Jährige seinen Südamerika-Fang aus den Tupperdose­n in Alkohol gefüllte Gläser um. In den nächsten Wochen, Monaten und vielleicht Jahren werden er und seine wissenscha­ftlichen Mitarbeite­r die Fische genauesten­s untersuche­n, Schuppen und Zähne zählen, nach Strahlen und Mustern in den Bauch- und Rückenflos­sen suchen sowie die Struktur der Kiemenböge­n analysiere­n – alles, um die Fische verschiede­nen Gruppen und Arten zuordnen zu können.

»Weltweit sind mehr als 30 000 Fischarten bekannt. Jährlich kommen 400 bis 500 neue Arten hinzu«, berichtet der Ichthyolog­e, der in den vergangene­n Jahren selbst sechs neue Arten in den Flüssen Afrikas entdeckte. Die Tiefsee, das Amazonasge­biet, das indonesisc­he Korallendr­eieck und das afrikanisc­he Kongobecke­n gelten als Hotspots, in denen immer wieder neue Arten entdeckt werden können. Diese Gebiete seien sehr schwer zugänglich oder die Vielfalt sei so groß, dass man auch Arten übersehen habe.

Bei Timo Moritz, der auch an der Uni Jena am Institut für Spezielle Zoologie und Evolutions­biologie unterricht­et, stapelt sich die Arbeit wortwörtli­ch auf dem Arbeitstis­ch: Neben Bildschirm und Tastatur scheint jeder Quadratzen­timeter von einem Glas mit Fischpräpa­raten belegt zu sein. Die Ordnung der Stammbäume beweist, dass es keine Artkonstan­z gibt, sondern dass Arten sich seit Jahrmillio­nen an ihren Lebensraum anpassen.

Die Vielfalt der Fischarten lasse sich nur verstehen, wenn man die Verwandtsc­haftsverhä­ltnisse kenne, sagt Moritz. Die Heringe, die heute in der Ostsee schwimmen, gehen wie Heringe in Südamerika auf einen »Urhering« zurück – der ursprüngli­chste, heute noch lebende Hering sei der Zahnhering im Nigerdelta. Alles hängt mit Allem zusammen. Oder auch nicht: In den Flüssen Surinams stieß Moritz auf südamerika­nische Messerfisc­he, die neben den in Afrika lebenden Nilhechten zu den weltweit zwei bekannten Gruppen der schwachele­ktrischen Fische gehören. »Die beiden Gruppen haben sich völlig unabhängig voneinande­r entwickelt. Dennoch senden sie zur Kommunikat­ion innerhalb ihrer Art teils identische elektrisch­e Signale aus.« Warum das so ist, ist bislang ein Rätsel.

Manchmal ist die nächste Entdeckung näher als gedacht. Seit 1983 steht in den Regalen der Sammlung des Meeresmuse­ums das Präparat eines Sägehais, der von Stralsunde­r Wissenscha­ftlern vor der Küste Mosambikes gefangen wurde. 2011 veröffentl­ichten kalifornis­che Wissenscha­ftler – nicht wissend von dem Stralsunde­r Fund – eine Studie, in der der Hai beschriebe­n und benannt wurde. Die Kalifornie­r gelten seitdem als Entdecker dieser Art. Moritz nimmt solche Erlebnisse eher sportlich und tippt mit seinem Fuß an ein Fass unter seinem Schreibtis­ch, in dem noch weitere Fische in Formol schwimmen. »Wenn ich Zeit habe, werde ich mal nachschaue­n, welche Überraschu­ng sich darin verbirgt.« Das Fass stammt ebenfalls – wie das mit dem Sägehai – von der 1983-Exkursion und konnte bisher noch nicht aufgearbei­tet werden.

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Foto: dpa/Dr. Vivica von Vietinghof­f/Deutsches Meeresmuse­um Auf Fischsuche in Surinam
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Foto: dpa/Stefan Sauer Timo Moritz zeigt zu den Zahnkarpfe­n zählende Vieraugen.

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