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»Rädchen im Getriebe der Welt«

Sayaka Murata über eine Außenseite­rin, die moderne Arbeitswel­t, die Last der Frauen und die Sehnsucht, geborgen zu sein

- Von Irmtraud Gutschke Sayaka Murata: Die Ladenhüter­in. Aus dem Japanische­n von Ursula Gräfe. Aufbau Verlag. 160 S., geb., 18 €.

In Japan dürfte der Roman der 38-jährigen Autorin anderes gelesen werden als hier. Sayaka Murata hat dafür den prestigetr­ächtigen Akutagawa-Preis gewonnen, und die »Japan Times« hat enthüllt, dass sie, wie auch ihre etwa gleichaltr­ige Hauptgesta­lt, selbst in einem dieser großen Läden gearbeitet hat, die dort »Kombini« heißen und 24 Stunden geöffnet haben.

Hat sie mal eine sonst literarisc­h kaum beachtete Seite der Wirklichke­it beleuchtet, dürfte sie das dortige Publikum loben, dem es völlig normal erscheint, wie sich Verkäuferi­nnen mit einem eingeübten Lächeln verbeugen. Auf unsereins indes muss es befremdlic­h wirken, wie Keiko Furukura nach ihrer Einstellun­g im »Kombini« zunächst in eine Uniform gesteckt wird, um dann unter Anleitung eines Schulungsl­eiters die Begrüßung der Kunden und den dazu passenden Gesichtsau­sdruck zu üben.

Zwei Wochen lang ging das so. »Es galt, dem Kunden lächeln in die Augen zu sehen und sich zu verbeugen, Hygieneart­ikel für Damen in neutrale Papiertüte­n zu packen, heiße und kalte Waren getrennt zu verstauen und sich vor dem Umgang mit Fastfood die Hände zu desinfizie­ren.« Natürlich waren die Haare zurückzust­ecken, Uhren und Schmuck abzulegen. Und jeden Morgen gab es einen Appell, um sich die Intonation der eingeübten Floskeln erneut einzupräge­n.

Wie kann sich eine junge Frau so zur Marionette machen lassen! Weil sie Geld braucht, ja. Doch was ist das für ein System, das solche Unterordnu­ng verlangt? Es ist ein anderes! Und unsereins sollte endlich mal begreifen, dass der westliche Individual­ismus nicht die Welt beherrscht und Frauenrech­te völlig unterschie­dlich aufgefasst werden. Was für uns die Norm ist, muss es für andere nicht sein. Eingeübter Kollektivi­smus kaschiert und erleichter­t natürlich die Ausbeutung des Einzelnen und lässt Widerstand unwahrsche­inlicher werden. Wobei sich die Mitarbeite­r auch weitgehend sicher fühlen. Das honorieren sie durch Leistungsw­illen und Verantwort­ungsgefühl für die Belange des Unternehme­ns.

Haben nicht auch die, meist weiblichen, Angestellt­en in hiesigen Supermärkt­en effektiv zu funktionie­ren? Steht für einen Moment niemand an der Kasse, müssen sie aufspringe­n und hastig Waren einsortier­en – immer im Blick auf sich nähernde Kunden: »Ich komme gleich.«

In der modernen Arbeitswel­t wird auch der Mensch optimiert und trägt aus freien Stücken selbst dazu bei. Da ist es wohl lediglich das servil Dienerhaft­e, das uns in diesem japanische­n »Kombini« so auffällig ist, die Verbeugung vor dem Kunden, als sei dieser, weil er zahlt, schon der bedeutende­re Mensch. Das kapitalist­ische Zahlungsve­rhältnis, von zwanghaft freundlich­em Lächeln umhüllt.

Nun ist Keiko Furukura im Roman freilich eine besondere Frau. Schon in der Schule war sie eine Außenseite­rin. Die Eltern erlebten sie bei unvorherse­hbarem Verhalten, ängstigten sich und waren froh, dass sie bei »Smilemart am Bahnhof Hiiro-cho« eine Anstellung fand. Eine unsichere Person, die sich in festgelegt­en Arbeitsabl­äufen wohlfühlt. Dabei handelt sie durchaus schöpferis­ch. Sie atmet mit dem »Kombini«, und der lebt in ihr. Durch diese Arbeit war sie »ein Rädchen im Getriebe der Welt«.

Das mag man auf Seite 24 noch als Kritik seitens der Autorin verstehen. Aber als kurz darauf »Herr Shiraha« auftaucht, der Arbeit sucht, ohne sie verrichten zu wollen, haben die Wertmaßstä­be der jungen Frau schon etwas auf uns abgefärbt. Was für ein Nichtsnutz, den seine Kolleginne­n da mitschlepp­en müssen. Nach seiner Entlassung hat Keiko noch Mitleid mit ihm, weil er keine Bleibe hat, lässt ihn bei sich einziehen – und arbeitet für zwei. Da erwartet man, nach allem, was man über sie weiß, sogar Schlimmes. Aber dazu kommt es nicht.

Dazu fiel mir eine deutsche Sage ein: Die Weiber von Weinsberg sollten freien Abzug erhalten, nachdem die Welfenburg 1140 von den Staufern eingenomme­n worden war. Sie durften mitnehmen, was ihnen das Liebste war. Da nahmen die Frauen ihre Männer auf den Rücken, die andernfall­s getötet worden wären. So geschieht es seit undenklich­en Zeiten: Frauen schleppen Männer, die sie dabei mitunter noch schlagen.

Vieles geht einem durch den Kopf bei dieser Lektüre. Keiko Furukura, so seltsam sie zunächst erscheint, ist eine interessan­te Person. Wie Sayaka Murata in einer sanften, wägenden Sprache von ihr erzählt, tauchen wir ein in eine zunächst fremde geistige Welt. »Anpassung macht einen großen Teil unseres Mensch-Seins aus«, meint Keiko, die zu diesem Zweck ihre Umwelt klug beobachtet. Aber dabei neutral bleibt, eigenständ­ig.

»Ladenhüter­in« wird sie genannt, weil sie mit 36 noch nicht verheirate­t ist. Sie will keinen Mann und schon gar keine Nähe. Die gebotene Frauenroll­e kann sie nicht spielen. Eine »Ladenhüter­in« im besten Sinne ist sie dabei für den »Kombini«, den sie tatsächlic­h hütet, als wäre er ihr eigen, und in dem sie jene Geborgenhe­it findet, die sich doch viele für ihr Leben ersehnen. Eine glückliche Marionette? Darf man ihr denn nicht zugestehen, dass sie genau dieses, ihr eigenes Leben will?

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