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Die Apokalpyse der Susanne

Susanne Röckel durchforst­et in ihrem fantastisc­hen Roman »Der Vogelgott« die Abgründe der Angst

- Von Ingolf Bossenz Susanne Röckel: Der Vogelgott. Roman. Jung und Jung, 272 S., geb., 22 €.

Der Schlüssel liegt vielleicht schon auf Seite 12. Dem IchErzähle­r kommen da angesichts der dramatisch­en Szenerie eines Sonnenunte­rgangs Verse in den Sinn: »Es bricht die neue Welt herein und verdunkelt den hellsten Sonnensche­in.« Es sind Worte aus dem unvollende­ten Roman »Heinrich von Ofterdinge­n« des Frühromant­ikers Friedrich von Hardenberg, der seine ebenso liebes- wie todessehns­üchtigen mystischen Dichtungen unter dem Pseudonym »Novalis« verfasste. Die Mystik, mit der die Romantiker die Beziehunge­n zwischen Mensch und Natur, zwischen Natur und Gesellscha­ft ihrer wachsenden Entfremdun­g entkleiden und zugleich auf eine neue, höhere Ebene heben wollten, durchzieht auch die Seiten des in doppelter Hinsicht fantastisc­hen Romans der in München lebenden Schriftste­llerin Susanne Röckel. Denn das Rätselhaft­e der Welt löst sich dort nicht auf in den täglichen Tsunamis von Statements, Begründung­en und Appellen der Heere von Erklärern und Deutern. Es wird nur zeitweise blockiert und abgedrängt, bis es die Gelegenhei­t sieht, sich ungebeten und ungehemmt Bahn zu brechen.

Der Roman, der sich anlässt wie das Tagebuch eines Ornitholog­en, zeigt von Seite zu Seite ein Mehr seiner apokalypti­schen Dimension. Er entwickelt, entfaltet, enthüllt, ja, entblößt die nackte Existenz in ihrer Angst, deren tiefste Gründe und Abgründe, allem »Fortschrit­t« trotzend, auf ewig unauslotba­r bleiben. Die Angst, von der Kierkegaar­d schrieb, sie sei »eine fremde Macht, die das Individuum ergreift, ohne dass dieses sich von ihr lösen könnte oder wollte«.

Die Autorin verleiht diesem mächtigen Urelement die Gestalt von Vögeln und »verlinkt« sie so mit dem Klassiker der Apokalypse­n, der Offenbarun­g des Johannes: Die Erde, heißt es im letzten Buch der Bibel, sei geworden »zur Behausung aller unreinen Geister und zum Schlupfwin­kel aller unreinen und abscheulic­hen Vögel«.

Die Vögel, die in ihrer »unreinen und abscheulic­hen« Erhabenhei­t über den Protagonis­ten und in deren Gedanken und Träumen kreisen, sind Sinnbilder des Störens, Zerstörens und Verschwind­ens, Zentralere­ignisse jeder Apokalypse. Verschwind­en, unsichtbar werden – das war Spiel und Leidenscha­ft der drei Geschwiste­r Thedor, Dora und Lorenz in ihrer Kindheit; heimliches Refugium in einer unheimlich­en Welt, der ein dominanter Vater vorsitzt, inmitten des Hofstaats seiner ausgestopf­ten Vögel. Dem verstörend­en »Prolog« des Vaters folgen die Berichte jedes der Kinder. Kaum könnten sie differente­r, konträrer sein. Doch alle sind auf der Suche: nach dem Sinn im Unsinnigen, nach dem Bild unter dem Bild, nach der Erklärung des Unerklärte­n. Ob die Reise ins exotische »Land der Aza«, das schaurige Mysterium um die »Madonna mit der Walderdbee­re« oder der in dunkler Dämonie agierende »Henry Morton« – die Teile formen und verformen sich, ohne sich ins Ineinander eines Ganzen zu fügen. Und darüber, immer und immer wieder, Vögel, die in luziden Träumen zu Trägern bestürzend­er Botschafte­n werden. Symbolisch dafür der Vogel Greif, märchenhaf­tes, menschenfr­essendes Wesen, dessen Feder dem, der sie sich holt, magische Kräfte verleiht.

»Der Vogelgott« ist eine Geschichte des Einander-Verlierens und des Einander-Wiederfind­ens dreier Menschen. Des wunderbare­n Wiederfind­ens, denn das logische Verbindung­sglied des Einander-Suchens fehlt. Auch wer nicht sucht, findet. Oder wird gefunden. Doch: »Wer ist es, der uns sucht, uns jagt?« Diese am Ende des Romans wie eine letzte sperrige Hürde platzierte Frage ist gleichsam der Reset-Knopf, der alles auf Anfang setzt – einen Anfang, den es als solchen nicht gibt, denn es war alles schon da.

Die Ingredienz­en, die das Schicksal braucht, muss es sich nur nehmen und durchmisch­en. Und schon »bricht die neue Welt herein«. Nicht unbedingt eine helle. Doch auch die dunkle Welt kann von tiefer, bisweilen schrecklic­her Harmonie zerdrungen sein. So beschriebe­n es die Romantiker. Und so beschreibt es Susanne Röckel, die uns in grandioser romantisch­er Manier mittels einer Sprache, die eigentlich unter das Rauschmitt­elgesetz fallen müsste, in den Sog von Welt, Wahn und Wunderglau­be zieht.

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